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„Allah ist Zeuge unseres Kampfs!“

Jelzin zieht Truppen des Innenministeriums aus der Tschetschenen- Republik ab/ Empfindlicher Gesichtsverlust für den russischen Präsidenten/ Ausnahmezustand in Tschetscheno-Inguschetien auch im demokratischen Lager heftig umstritten  ■ aus Moskau Klaus-H. Donath

„Rußland ist überschüttet von imperialistischen Ideen“, meinte Moskaus Bürgermeister Gawriil Popow auf dem Kongreß der Bewegung Demokratisches Rußland (DR) am Wochenende. Scharf kritisierte er die Maßnahme des russischen Präsidenten, in der rebellischen Republik Tschetscheno-Inguschetien den Ausnahmezustand zu erklären und Spezialeinheiten dorthin zu entsenden, um die Region zu befrieden. Die DR stellte die einflußreichste oppositionelle Dachorganisation in den letzten beiden Jahren der kommunistischen Herrschaft. Die Kommunisten sind von der Bildfläche verschwunden, jetzt beginnt der innere Differenzierungsprozeß der Opposition — entlang der nationalen Frage und dem russischen Selbstverständnis. Nikolai Trawkin, der Vorsitzende der Demokratischen Partei Rußlands (DPR) verließ die Reihen des Demokratischen Rußlands. Ihm wurden schon lange russisch-imperiale Attitüden nachgesagt. Mit ihm verabschiedeten sich auch die Russisch-Christlich-Demokratische Bewegung und die Partei der Volksfreiheit, die bisher kaum jemand wahrgenommen hat. Den Parteien der ehemaligen Opposition fehlt es noch an der Massenbasis. Sie sind nicht viel mehr als „Honoratioren und Gladiatorenklüngel“.

Boris Jelzin, Gallionsfigur der Opposition, mußte am Wochenende harsche Kritik von Teilen der DR einstecken. Er habe im Umgang mit anderen Nationalitäten nichts aus den Fehlern seines ehemaligen Widersachers Gorbatschow gelernt. Wie dieser steht Jelzin jetzt vor demselben Problem. Nach dem Zerfall der Union zerbricht nun die Russische Föderation, in der die autonomen Republiken ihren Freiheitskampf aufnehmen. Auch das Russische Parlament schonte seinen Präsidenten nicht. Zwar habe Jelzin seine Rechtskompetenz nicht überschritten, dennoch, hieß es in einer Resolution, „ist es in der gegenwärtigen Situation unmöglich, das Dekret auszuführen“. Es sei vielmehr notwendig, „die Krise in Tschetscheno-Inguschetien mit politischen Mitteln zu lösen und nicht durch Notstandsmaßnahmen“. Rußlands Vizepremier Rutskoi hatte zuvor Jelzins Maßnahmen in erregtem Zustand noch gerechtfertigt. Bündelweise schüttelte er Dokumente vor der Kamera, die das verfassungswidrige Vorgehen des Ende Oktober neu gewählten tschetschenischen Präsidenten Djokar Dudajew, belegen sollten. Rußland hatte die Wahlen für ungültig erklärt. Das Exekutivkomitee des Nationalkongresses unter Führung des Generals Dudajew hatte die Wahlen eigenmächtig anberaumt. Weder die Verfassung der autonomen Republik noch die der RSFSR sehen eine solche Möglichkeit vor. Denn der Nationalkongreß war nicht einmal als eine politische Vereinigung in der Republik registriert. Jelzins Vermittler, der Tschetschene Achmed Asarnow, hatte die Aktivitäten Dudajews ebenfalls für rechtswidrig erklärt. Nach dem Erlaß Jelzins wolle er aber versuchen, Jelzin davon zu überzeugen, die Maßnahme rückgängig zu machen. Dann werde er selbst von seinem Amt zurücktreten.

Dudajew, der einzige Tschetschene im Rang eines Generals, gibt sich seit seiner Rückkehr in die Heimat kämpferisch. Im Streben nach Unabhängigkeit kann er sich auf radikale islamische Fundamentalisten verlassen. Die 750.000 Tschetschenen sind sunnitische Moslems, die im 19. Jahrhundert nach blutigen Aufstäden von Rußland annektiert wurden. Die etwa 180.000 Inguschen, ebenfalls sunnitische Moslems, hatten an den Präsidentschaftswahlen nicht teilgenommen. Sie wehren sich gegen die Dominanz ihres Brudervolkes und proklamierten ihre eigene Republik mit der Hauptstadt Nazrani. Die Wahlen sollen zudem unter Druck der Dudajew-Anhänger stattgefunden haben.

In dem Konflikt um die Region Südossetien in Georgien haben die Tschtschenen offen Position für die mörderische Politik des georgischen Tyrannen Gamsachurdia bezogen. Ausschlaggebend dafür dürften territoriale Streitigkeiten zwischen Nordosseten und Tschetschenen sein. Zu seinem Schutz hatte der Kaukasustyrann eine Truppe Tschetschenen angeheuert.

Ungeachtet der internen Zwistigkeiten und Ungereimtheiten hat der russische Präsident einen entscheidenden Fehler begangen. Der Rückzug der russischen Spezialeinheiten wurde in Grosnyj schon als Sieg gefeiert. Die Moskauer Drohgebärde hat die Aussichten auf eine Verhandlungslösung verschlechtert. „Alle autonomen Republiken sollten das Recht erhalten zu gehen“, meinte Popow. Es wäre weise, wenn Jelzin den Rat aufgreifen würde.

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