: „Doch was ist hier normal?“
Die jüngste Welle wahlloser Morde an Katholiken versetzt die Bewohner von Nord-Belfast in Angst und Schrecken/ Protestantische Paramilitärs haben sich reorganisiert ■ VON RALF SOTSCHECK
Die Explosion war kilometerweit zu hören. Wenige Minuten später rasten Feuerwehrzüge aus allen Stadtteilen Belfasts zum Musgrave-Park-Krankenhaus. Die Irisch-Republikanischen Armee (IRA) bekannte sich zum Sprengstoffattentat gegen die dortige militärische Abteilung. Zwei Soldaten kamen dabei ums Leben, zehn Besucher wurden verletzt.
Wenn die IRA behaupte, in Nordirland herrsche Krieg, dann habe sie mit dem Anschlag auf das Krankenhaus die Genfer Konvention verletzt, sagte der britische Staatssekretär Richard Needham. Der Vorwurf saß: Bereits eine Stunde später veröffentlichte die IRA eine zweite Presseerklärung und behauptete, der Anschlag habe nicht dem Militärkrankenhaus gegolten, sondern einem Teil des Gebäudes, das als Armeestützpunkt diene. Von dieser Erklärung ließen sich freilich nur militante IRA-Anhänger überzeugen.
Das geschah am vorletzten Wochenende, und seitdem befürchten viele Bewohner Belfasts einmal mehr die Eskalation der Gewalt. Seit dem erneuten Ausbruch des nordirischen Konflikts Ende der sechziger Jahre ist ein Fünftel aller politischen Morde in Nord-Belfast begangen worden. Hier sind katholische und protestantische Viertel, ja sogar einzelne Straßen, bunt durcheinandergemischt — getrennt durch hohe Mauern und Wellblechzäune, die „Friedenslinie“ genannt werden. Eine dieser Trennungslinien verläuft östlich der Antrim Road entlang Duncairn Gardens, das zum protestantischen Viertel Tiger Bay gehört. Auf der rechten Seite sind die Türen und Fenster der meisten Reihenhäuser aus rotem Backstein zugemauert. Die Bewohner sind längst geflüchtet, vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen, die immer wieder an den Grenzen der Viertel aufflammen. Direkt hinter diesen Häusern erhebt sich ein hoher Wellblechzaun, der die Grenze zum katholischen New- Lodge-Viertel bildet. In den Zaun sind kleine Türen eingelassen, die zwar offenstehen, doch so gut wie nie benutzt werden.
Die kleine protestantische Kirche direkt an der Grenze ist noch in Betrieb. Die Fenster auf der Rückseite, die schon in New Lodge liegt, sind mit Maschendraht vergittert, die Hintertür ist mit einem schweren Eisengitter gesichert. Zwar gibt es links und rechts davon Seiteneingänge, rote, stählerne Torbögen, doch gleich dahinter hat man Sichtblenden aus Wellblech errichtet — oder sind es Kugelfänge? Schräg gegenüber liegt ein trostloser, eingezäunter Asphalt-Spielplatz. Der ist geschlossen, weil die Regierung die Zuschüsse gestrichen hat.
Liam lebt seit acht Jahren mit seiner Familie in New Lodge. Er ist arbeitslos — wie 80 Prozent seiner Nachbarn. „Bevor ich aus dem Haus gehe, beobachte ich erstmal die Straße“, erzählt er. „Vorsicht ist vor allem dann geboten, wenn man täglich das Haus zur gleichen Zeit verläßt, etwa um die Kinder zur Schule zu bringen.“ Am Fuß der Treppe, die vom Flur zu den Schlafzimmern führt, hat Liam eine Stahltür angebracht, die er jede Nacht verschließt, bevor er ins Bett geht. „Die meisten Überfälle passieren im Morgengrauen“, sagt er.
In Nord-Belfast geht die Angst um, seit sich die loyalistischen Organisationen — Ulster Defence Association (UDA), Ulster Volunteer Force (UVF) und die Red Hand Commandos — reorganisiert haben. Nachdem die Führungsriege verhaftet oder bei internen Machtkämpfen von ihren eigenen Leuten umgebracht worden war, verlegte sich der Nachwuchs auf brutalere, aber auch effektivere Aktionsformen und verstärkte vor allem die Vorsichtsmaßnahmen. So tragen die „aktiven Einsatzkommandos“ nun Schutzkleidung, die sie nach einem Anschlag verbrennen. Seitdem ist die Aufklärungsrate loyalistischer Attentate beträchtlich gesunken.
Darüber hinaus koordinieren die drei Organisationen erstmalig ihre Aktionen und unterstützen sich gegenseitig. Das zeigte auch der Waffenstillstand, den sie im Mai während der nordirischen Mehrparteiengespräche unter dem gemeinsamen Namen „Combined Loyalist Military Command“ verkündeten. Der Waffenstillstand war von ebenso kurzer Dauer wie die Mehrparteiengespräche.
Die Waffenkammern der Loyalisten, die sich der britischen Krone, jedoch nicht unbedingt dem Parlament verpflichten, sind gut gefüllt. Sie verfügen über genügend Gewehre und Schnellfeuerwaffen, um ihre Aktionen auf unbestimmte Zeit fortsetzen zu können. Außerdem besitzen sie einige RPG-Granatwerfer. Drei Loyalisten, die kürzlich in Paris wegen illegalen Waffenhandels verurteilt worden sind, erhielten in Südafrika eine Ausbildung an diesen Geräten. Im Gegenzug, das wurde im Laufe des Verfahrens bekannt, sollten sie Pretoria Unterlagen über geheime britische Raketentechnologie beschaffen — eine Kleinigkeit, da viele Loyalisten hauptberuflich bei den nordirischen „Sicherheitskräften“ arbeiten. Einer der drei in Paris Angeklagten arbeitete zudem in der britischen Rüstungsfirma „Shorts“. Den Loyalisten mangelt es lediglich an Sprengstoff, seit ihre Bezugsquelle — Sympathisanten in der schottischen Bergbauindustrie — Anfang der achtziger Jahre entdeckt worden ist. Inzwischen experimentieren sie mit „hausgemachtem“ Sprengstoff — mit Erfolg, wie die Brandbombenanschläge auf Dubliner Kaufhäuser im Juli dieses Jahres beweisen.
Die Zahl der von Loyalisten begangenen Morde hat sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt und liegt zum ersten Mal seit 1975 höher als die Zahl der IRA-Opfer. Mitte der siebziger Jahre handelten beide Seiten nach dem erbarmungslosen Motto: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Der traurige Höhepunkt wurde im Januar 1976 erreicht: Loyalisten ermordeten fünf Katholiken in der Grafschaft Armagh, die IRA rächte sich mit dem „Whitecross-Massaker“: Zehn protestantische Arbeiter, die in einem Minibus auf dem Weg zur Arbeit waren, wurden damals erschossen.
„Wir sind wieder auf dem besten Weg dahin“, sagt Liam heute. „Zwar legt die IRA bisher keine Leute um, nur weil sie protestantisch sind, doch die Protestanten sehen das anders: Polizei und das Ulster Defence Regiment (UDR), das nordirische Regiment der britischen Armee, bestehen fast ausschließlich aus Protestanten. Jeder Mord an einem Polizisten oder UDR-Soldaten bestärkt sie deshalb in ihrer Ansicht, daß die IRA einen Krieg gegen alle Protestanten führt.“ Darüber hinaus ist die „Irish People's Liberation Organisation“ (IPLO), eine Abspaltung der IRA, weniger zimperlich: Nachdem Loyalisten im Oktober einen Katholiken ermordet hatten, stürmte ein IPLO-Kommando eine protestantische Kneipe und schoß wahllos in die Menge.
Die IRA hat mehrfach mit der Eskalation der Anschläge auf Loyalisten gedroht, falls die Mordserie an Mitgliedern von IRA und Sinn Fein, ihrem politischen Flügel, nicht eingestellt werde. Ein Drittel der Opfer loyalistischer Attentate in diesem Jahr waren IRA- oder Sinn-Fein- Mitglieder. Die Todesschwadrone besaßen genaue Informationen über ihre Opfer. Das hat erneut die Vermutungen bestärkt, daß Polizei und UDR mit den Loyalisten zusammenarbeiten. Aus den Kasernen sind in den letzten Jahren Hunderte von Personalakten „mutmaßlicher IRA- Sympathisanten“ verschwunden. Nur ein Bruchteil konnte sichergestellt werden. Der Rest ist weiterhin im Besitz loyalistischer Kommandos.
Einer der Verantwortlichen ist Brian Nelson, ein Agent der britischen Armee, der die loyalistische Szene ausspionieren sollte. Doch Nelson war Doppelagent und arbeitete gleichzeitig als nachrichtendienstlicher Koordinator für die UDA. Von jedem Geheimdokument, das ihm in die Hände fiel, machte er sieben Kopien: eine für jede UDA-Brigade. Der Prozeß gegen Nelson, der unter anderem wegen Mordes angeklagt ist, beginnt im nächsten Jahr.
Es sind jedoch die wahllosen Morde an Katholiken, die in den vergangenen zwei Monaten stark zugenommen haben und Nord-Belfast in Angst und Schrecken versetzen. Erst am vergangenen Samstag wurden Brandbomben in ein Wohnhaus in einem Vorort Belfasts geworfen. Eine 40jährige Frau und ihr 16jähriger Sohn verbrannten. Die Frau — eine Protestantin, die aber einen katholischen Mann geheiratet hatte — war in dem überwiegend von Protestanten bewohnten Viertel schon häufig als „Verräterin“ angefeindet worden.
Die loyalistischen Organisationen haben zwei Drittel ihrer Opfer in diesem Jahr lediglich aufgrund des Taufscheins getötet. Die Identifizierung der Religion eines potentiellen Opfers ist ein Kinderspiel: Der Lebensraum der Bewohner ist auf die eigenen, „sicheren“ Straßen und Viertel beschränkt. Wer einen Ausflug in die bunten Einkaufsstraßen der Innenstadt macht, nimmt vor allem in der Dunkelheit große Umwege in Kauf, um nicht „feindliches Gebiet“ durchqueren zu müssen. In Nord-Belfast sind alle Lebensbereiche segregiert: Kneipen, Fußballclubs, Schwimmbäder, Schulen und sogar die Taxis.
Die Taxifahrer leben besonders gefährlich. Die UDA, die noch immer eine legale Organisation ist, hat die katholischen Fahrer zu „legitimen Angriffszielen“ erklärt. Sieben sind in diesem Jahr bereits ermordet worden. „Wir haben alle große Angst“, sagt Tony, der für eine der drei Taxi-Kooperativen arbeitet. „Bevor ich meinen Dienst antrete, sehe ich unter dem Wagen nach und durchsuche den Kofferraum. Ich bin immer auf der Hut und achte auf Motorradfahrer, die neben mir an der Ampel halten, auf Leute, die am Straßenrand stehen, auf alles Verdächtige.“
Dennoch ist die Zahl der nordirischen Taxifahrer von 6.500 im Jahr 1985 auf heute 8.000 gestiegen. „Was soll man bei der Arbeitslosigkeit denn machen“, fragt Tony. „Du mußt deinen Lebensunterhalt ja irgendwie verdienen.“ Jim Neeson, Manager einer Taxi-Kooperative, sagt jedoch, er kenne mindestens 20 Fahrer, die in den letzten Wochen das Handtuch geworfen haben. „Viele Frauen wollen seit dem Mord an Hugh Magee nicht mehr, daß ihre Männer weiterhin Taxi fahren. Wir Kutscher stehen in diesem Krieg an der Front.“
Hugh Magee wurde Mitte Oktober am Ende der Rosapenna Street im Oldpark-Viertel erschossen. Diese Straße westlich der Antrim Road ist einer der wenigen Verbindungswege nach Ardoyne, einer katholischen Enklave in protestantischem Gebiet. In diesem Viertel ist die IRA Ende der sechziger Jahre wieder auferstanden. Die meisten Straßen nach Ardoyne sind durch gelbe Schranken für Autos gesperrt. Fremde fallen sofort auf und ihre Anwesenheit spricht sich in Windeseile herum. Wer hier sein Auto vor einem der kleinen grauen Reihenhäuser parken will, ist gut beraten, den Bewohnern Bescheid zu sagen, allein, um sie zu beruhigen.
Die Rosapenna Street, die am oberen Ende auf ein protestantisches Viertel stößt, ist ideales Terrain für loyalistische Attentäter. „Wer einen Katholiken töten will, kann sicher sein, daß er einen erwischt: Er muß nur den Fahrer eines schwarzen Linientaxis in dieser Straße erschießen“, sagt Jim Neeson. Die Linientaxis sind in den katholischen und protestantischen Vierteln, wo die öffentlichen Busse ihren Dienst längst eingestellt haben, das alternative und billigere Verkehrsmittel. An derselben Stelle, an der Hugh Magee ermordet wurde, sind zwei weitere Taxifahrer in diesem Jahr lebensgefährlich verletzt worden. „Diese Route ist erst vor fünf Jahren auf Wunsch der Bewohner von Ardoyne und New Lodge eröffnet worden“, sagt Neeson. „Wir werden diese Strecke dennoch weiterbenutzen. Das schulden wir Hugh.“
Fast in Sichtweite der Stelle, an der Magee umkam, liegt eins der vielen hochgesicherten Forts der britischen Armee. Die Reihenhäuser an der Rückseite des Forts in der Clifton Park Avenue sind allesamt zugemauert und verfallen rapide. Die Straße stößt am Ende auf eine fünf Meter hohe, gelbe Mauer — eine weitere „Friedenslinie“. Vor der Mauer stand früher eine intakte Häuserzeile. Heute ist nur noch ein einziges Haus übrig, das einsam in der Trümmerlandschaft steht. Parallel verläuft die Manor Street, die vergleichsweise dicht besiedelt ist. An den kleinen Gärten hinter den Häusern stoßen protestantisches und katholisches Gebiet zusammen. Um die nächtlichen Steinschlachten zu unterbinden, haben die „Sicherheitskräfte“ zwischen den Gärten hohe Mauern errichtet.
Der Krieg, der hier euphemistisch „Troubles“ heißt, hat in diesem Jahr bisher 76 Opfer gefordert. Nordirland hat schon schlechtere Zeiten erlebt. Doch die Todesstatistik sagt nichts über die verschärfte Brutalität, die erschütternde Beliebigkeit der Anschläge und über die Opfer, die gerade nochmal davongekommen sind: der Taxifahrer, dem ein Bein amputiert werden mußte; der 24jährige Katholik, dem mit Rasiermessern 150 Schnittwunden beigebracht wurden; der südirische Tourist, der in Nord-Belfast die falsche Kneipe aufsuchte, anhand seines Dialekts als „Feind entlarvt“, mit Kugeln durchsiebt und 17 Stunden später gefunden wurde, liegt seitdem im Koma. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dennoch wird 1991 nicht als außergewöhnliches Jahr in die nordirische Statistik eingehen.
So sieht es auch der britische Nordirlandminister Peter Brooke: „Diese Höhepunkte terroristischer Aktivitäten gab es früher auch, doch dann kehrten wieder normalere Zustände ein.“ Doch was ist normal? 76 Tote vielleicht? Brookes moralische Verurteilung der Gewalt klingt hohl, arbeiten doch die „Sicherheitskräfte“ mit ähnlichen Mitteln. Sie schikanieren Tag für Tag die Menschen in den Ghettos, setzen gezielte Todesschüsse ein, vertuschen „irrtümliche“ Erschießungen Unbeteiligter, verheimlichen Autopsieberichte, erschießen Kinder mit Plastikmunition und lassen verurteilte Mörder in Uniform schon nach zwei Jahren Gefängnisaufenthalt wieder Rekruten ausbilden.
„Man braucht nur eine Handvoll Leute, um eine monatelange Mordkampagne zu führen“, sagt Liam. „Solange keine politische Lösung in Sicht ist, wird es diese Handvoll immer geben.“ Um in Nord-Belfast nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu überleben, brauche man eine große Portion schwarzen Humor, fügt er hinzu und deutet auf die „Friedenslinie“: Anwohner haben auf den Wellblechzaun einen weißen Sandstrand mit Palmen und strahlend blauem Himmel gemalt. Und nachdem die Armee im Januar ihren Wachturm auf der Antrim Road abgebaut hatte, so erzählt Liam, errichteten ein paar Leute an der Stelle ein Schild: „Bin am Golf. In zwei Wochen wieder zurück.“
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