piwik no script img

Volksmusiksängerin im Jazzbereich

■ Saynho Namchalak, sowjetisches Stimmwunder, heute noch einmal in Berlin

Es gibt nicht viele Frauen, die mit einem Stimmvolumen, das sechs Oktaven umfassen soll, aufwarten können. Sie ist eine davon. Gar nicht Diva, benutzt Saynho Namchalak ihre Stimme als grandioses Instrument einer Weltentdeckungsreise der Töne, Klänge und Geräusche in den verschiedensten Musikbereichen.

Die 34jährige kommt aus einem verlassenen Dorf nahe der Grenze zur Mongolei, das in der autonomen sowjetischen Republik Tuwa liegt, ist mit Schamanismus und Buddhismus vertraut und kennt die tonalen, klanglichen und folkloristischen Musiktraditionen dieser Region. Ihre Heimat ist aber nur eine Quelle ihrer Musik. In Moskau hat sie eine Ausbildung als Sängerin erhalten und ist in für uns »klassischen« Musiktraditionen geschult. Seit dem Ende der achtziger Jahre ist sie für Jazzfans der westeuropäischen Szene eine der innovativsten und stimmgewaltigsten Interpretinnen. Saynho Namchalak benutzt ihre Stimme, um Musik zu machen, die an die verschiedenen geografischen Orte, mit denen sie vertraut ist, erinnert. Als Volksmusiksängerin im Jazzbereich bezeichnet sie sich selbst, und die noch zu entdeckende Musik des eurasischen Kontinents kommt in einzelnen Liedern immer wieder durch. Sie singt sehr hohe, klagende Melodien und beherrscht die für den mongolisch-asiatischen Raum typische polyphone Technik des Obertonsingens, eine Technik, die in ihrer Heimat eigentlich nur von Männern gesungen wird. Nie jedoch würde die sibirische Mongolin sich auf ein einziges Element ihrer Musik- und Geräuscherfahrung verlassen. Statt dessen benutzt sie ihre Stimme auch, um damit Geräuschszenarien zu entwickeln, die geradezu bildlich wirken. Der ohrenbetäubende Lärm in einem artenreich mit Vögeln bevölkerten Urwald bei Sonnenaufgang wird von ihr gesungen; sie kann mit Hilfe ihrer Stimme ihr eigenes Schlagzeugsolo spielen und sie hat alle stimmtechnischen Möglichkeiten, um die Musikfans auch in den Geräuschgenuß einer Massenkarambolage auf der Avus zu versetzen.

Melodische Sequenzen werden durch nasale, gutturale Techniken verzerrt und bis hin zu nur noch schlagenden, klanglosen Geräuschen moduliert und verändert. Auf diese Art wird Atmen, Stöhnen, Zwitschern, Klopfen, Schnalzen und Schreien zu Musik.

Saynho Namchalak, die Kosmopolitin der Musik, die auch vor Rock nicht haltmacht, hat recht, wenn sie trotz aller Experimente auf ihren Volksmusiktraditionen besteht. Mit Hilfe ihrer Stimme hat sie die seltene Fähigkeit, die eigentliche Folklore der industrialisierten Länder zu singen, die da sind: Fabriklärm, das schneidende Geräusch von Tornados im Tiefflug, die verzerrte Artikulation in Videospielen oder das Klopfen kaputter Auspuffanlagen. Das Bedrängende und Zerstörerische der Geräuscherfahrungen unserer Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen ist dabei durchaus eines ihrer Anliegen. Waltraud Schwab

Saynho Namchalak heute um 21 Uhr mit dem Posaunisten Konrad Bauer in der »Küche«, Reichenberger Str. 104.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen