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Protest bis zum letzten roten Stein

■ Zwei Stunden früher als erwartet rollte gestern Lenins Haupt vom 19 Meter hohen Monument/ Gegner des Abrisses kamen zu spät/ Denkmal-Befürworter vermuten »Sabotage-Aktion« des Westens

Friedrichshain. »Scheiße!« Der 17jährige Punk Mampf war stinksauer. »Da ist man einmal nicht da, und schon ist der Kopf ab.« Für den Punk mit dem runden Gesicht, dessen Lederjacke hinten ein großer Totenkopf und vorne ein kleiner Sticker mit der DDR-Fahne ziert, war sonnenklar, daß der Westen die ehemaligen DDR-Bürger »wieder einmal verscheißert« hat.

Gestern morgen, als Mampf und seine Freunde noch in den Federn gelegen hatten, weil sie in der Nacht zuvor zum Gedenken an die vor einem Jahr geräumten Häuser durch die Mainzer Straße gezogen waren, wurde der Vater der russischen Revolution, Wladimir Jljitsch Uljanov, genannt Lenin, im Ostberliner Bezirk Friedrichshain von einem Trupp Bauarbeiter enthauptet. Die Operation, die binnen 20 Minuten ohne Proteste oder Jubelrufe vonstatten ging, war mit Hammer, Meißel und Säge von langer Hand vorbereitet. Kurz vor 10 Uhr schwebte der voluminöse Kopf aus Granit an vier durch die Glatze gezogenen Ketten von dem 19 Meter hohen Standbild zu Boden. Dort wurde das steinere Haupt flugs auf einen Sattelschlepper geladen — mit einer roten Schlinge um Hals und Stirn festgezurrt. Dann ging es ab zur Zwischenlagerung in Richtung Müggelheim im Köpenicker Stadtforst. Nur an der ersten Ampel kam es kurz zum Verkehrschaos, als sich ein unifomierter Mann auf die Ladefläche schwang und dort für die 100 Fotografen posierte. Die Medien, unter ihnen zahlreiche Fernsehteams, und eine Handvoll Trauergäste waren die einzigen Augenzeugen des Abrisses. Die Baufirma hatte die Demontage um zwei Stunden vorverlegt, was die Gegner, die um 12 Uhr zur Protestkundgebung herbeigeeilt waren, als Sabotageaktion werten.

Die Entrüstung der irregeführten Hausfrauen, Arbeiter, Angestellten, Punks und einer Schulklasse war groß. »Das ist eine Schweinerei«, wetterte eine 47jährige Angestellte im öffentlichen Dienst, die sich extra einen Haushaltstag genommen hatte, um hier zu demonstrieren. »Wer das Lenin-Denkmal abreißt, reißt die DDR-Geschichte mit ab«, sprach die Frau den beifällig nickendem Umstehenden aus der Seele.

Der Bauzaun um das Lenin-Denkmal ist mit roten Fahnen und Transparenten übersät. Auf den meisten wird gegen den Abriß protestiert. Auf einem fingierten Bauschild heißt es: »Hier entsorgt der Senat von Berlin deutsch-deutsche Geschichte im Rahmen eines Sanierungsvorhabens gegen Andersdenkene. Sponsoring: zewa, wisch und weg. Abwicklung: Blackout und Co KG«. Von den Punks, die seit vergangenem Freitag in einem Zelt mit einer Mahnwache gegen den Abriß protestieren, hat nur eine 20jährige Studentin namens Anja gesehen, wie Lenins Kopf herunterschwebte. Für sie, die sich mit ihren halb roten, halb schwarz gefärbten Haaren ebenso wie der 17jährige Mampf als »Anarchist« ausgibt, ist völlig klar, daß der Westen damit die »DDR-Geschichte auslöschen will«. Als nächstes kämen bestimmt das Thälmann-Denkmal und das Marx-Engels-Forum dran. Der 17jährigen Abiturientin Karin will nicht in den Kopf, daß der Senat für den Abriß 100.000 Mark verschleudert, wo die Schüler fürs Abitur nur ein Schulbuch zur Verfügung hätten.

Der Punk Mampf kann zwar verstehen, daß viele das Lenin-Monument nicht mögen, aber ihn selbst habe es nie gestört. »Ich finde es gut, wie der da steht. Die eine Hand an der Brieftasche, die andere als nach unten geballte Faust. Der Kopf ist vielleicht etwas zu klein geraten.« Auch wenn Lenin »viele Anarchisten getötet« habe, hätte der Revolutionsführer als Bestandteil der DDR-Geschichte auf jeden Fall stehen bleiben müssen, meint der Punk. Den in der Schule vielfach zitierten Lenin- Ausspruch: »Lernen, lernen und nochmals lernen«, so Mampf, »nehme ich mir heute sehr zu Herzen, wenn ich sehe, was der Anschluß an den Westen bedeutet: machste nichts, kannste nichts!« Darum hat sich Mampf auch fest vorgenommen, seine Lehre abzuschließen, denn als Hauswart oder Pförtner könne man überall etwas werden. »Aber das Zelt hier bleibt bis zum letzten roten Stein der 125 Granitblöcke stehen«, schwört er und grinst. plu

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