Die Wahrheit steht nicht in den Akten

■ Eine Diskussion mit und über Sascha Anderson aber ohne Wolf Biermann in Berlin/Pankow

Volker Braun („Die Kipper“), der in einer Bürgschaft für den DDR-Schriftstellerverband Sascha Anderson als „einen großen Dichter“ bezeichnet hatte, hat den „unflätigen, triumphierenden Ton“ Wolf Biermanns kritisiert, der Anderson einen Stasi-Spitzel nannte. Es gebe Scharfmacher unter den Opfern der Stasi, die „blindwütig urteilen“. Sie sollten sich davor bewahren, „aus den Opfern von gestern zu den Tätern von heute zu werden“, sagte Braun am Montag abend auf einer Diskussionsveranstaltung mit Anderson in der Literaturwerkstatt in Berlin, Pankow. Biermann war nach Angaben der Veranstalter auch eingeladen worden, habe jedoch eine Teilnahme mit dem Hinweis abgelehnt, daß er sich das Forum nicht aufnötigen lasse.

Der „Fall Biermann/Anderson“ ist für Braun „eine Wunde, aus die jetzt der Eiter tritt“ und die das „vertrauliche Verhältnis zur Macht“ als „monströse Banalität“ offenlege. „Die Staats- un-sicherheit war der eigentliche destruktive Faktor in dieser Gesellschaft“, im Grunde genommen kontraproduktiv“ und „ein entsetzlicher und beschämender Teil unseres Lebens.“ Andersons Bekenntnisse hätten „die Anteilnahme zerfasert“. Braun meinte, Angst habe damals zu „Leichtsinn“ und zu „fahrlässiger, lässiger Kumpanei“ mutieren können. An Anderson gerichtet, meinte Braun: „Mich frustrierte Deine Art Anhänglichkeit über eine lange Zeit an diese Behörde, die ich schwer verstehe.“

Anderson räumte ein, darüber nicht mit seinen Freunden gesprochen zu haben, „einfach aus Angst“. Er betonte erneut, daß er „nur erzwungene Kontakte“ gehabt habe.

Auf die Frage eines Vertreters der Gauck-Behörde „Waren Sie nun Spitzel oder nicht?“ antwortete Anderson: „Ich habe schon zehnmal nein gesagt.“ Als er von Biermanns Anschuldigungen gehört habe, sei er zusammengebrochen. „Der Vorwurf soll nicht vernichten, er vernichtet.“ Er kündigte an, daß Ende November ein Treffen von „allen Leuten, die damals dabei waren“ geplant sei, um sich auszusprechen.

Werner Fischer, Mitbegründer der Initiative für Frieden und Menschenrechte und heute im Berliner Senat mit der Auflösung der Stasi befaßt, meinte, man müsse beginnen, die Geschichte der DDR-Opposition aufzuarbeiten, „mit ihren Eitelkeiten, ihrem Egoismus und ihrer Geltungssucht“. Was Biermann ausgelöst habe sei eine „Schlammschlacht“ und „widerlich, schier unerträglich“. Es zeige ein hohes Maß an Realitätsverlust, auch bei Jürgen Fuchs“.

Der Vertreter der Gauck-Behörde teilte mit, daß sein Amt die Aktenlage im Falle Anderson zur Zeit prüfe und darüber einen objektiven Bericht erstellen werde, „soweit das überhaupt möglich ist“. Zur Frage nach der „Wahrheit aus den Akten“ meinte er, Akten könnten unterschiedlich bewertet werden, was zunächst nicht seine Aufgabe sei. „Wir stellen keine Persilscheine aus, sondern sagen, was in den Akten steht.“ Es gebe aber oft Probleme durch Lücken in den Akten und man mache auch die Erfahrung, daß „Inoffizielle Mitarbeiter“ der Stasi versuchten, ihre Tätigkeit bis zuletzt zu leugnen, bis ihnen die Verpflichtungserklärung vorgelegt werde und sie dann sagten: „Ach ja, jetzt dämmert‘s mir.“ dpa