: Was nicht zu sehen ist
■ Der Dokumentarfilmer Marcel Ophüls über die Szenen, die die Langfassung seiner „Novemberdays“ enthalten würde, wenn er die Gelegenheit bekäme, sie fertigzustellen. Mit einer Einleitung über die Frage, warum wir sie am vergangenen Samstag nicht zu sehen bekamen.
Die deutschen Rechte hat zur Zeit RTLplus: für eine zweimalige Ausstrahlung bis 1994. Marcel Ophüls' Novemberdays, der von der BBC in Auftrag gegebene Dokumentarfilm über den Fall der Mauer, war denn auch zum ersten Geburtstag des Mauerfalls von RTLplus bereits einmal ausgestrahlt worden. Filmproduzentin Regina Ziegler, die an den Novemberdays mit 75.000 Pfund (circa 250.000 DM von insgesamt 450.000 Pfund, circa 1,4 Millionen DM) beteiligt ist und die Weltrechte innehat, hatte die Lizenz im vergangenen Jahr an den Kabelsender vergeben, weil die Öffentlich-Rechtlichen eigene Beiträge zum Jubiläum senden wollten. Dieses Jahr jedoch meldeten die Programmdirektoren der dritten Sender Interesse an, im Sommer war es zu Gesprächen zwischen Ophüls und ARD-Chef Dieter Schwarzkopf gekommen. Es ging um eine aktualisierte Drei-Stunden-Fassung, auszustrahlen am vergangenen Samstag. Aber das war auch schon alles. Die Drei-Stunden-Fassung existiert nach wie vor nur als Rohmaterial, auch die von verschiedenen Festivals angefragte Filmfassung der Novemberdaysist nach wie vor schlicht nicht vorhanden. Regina Ziegler erklärt letzteres mit den hohen Kosten („mehrere 100.000 DM“) vor allem für die Filmrechte der von Ophüls verwendeten Film-Zitate. Ophüls dazu: „Man muß Verhandlungen führen. [...] Ich habe das schon in früheren Fällen praktiziert. Man muß nur ein paar nette Briefe schreiben. Dazu hatte ich mich schon während der Produktion bereit erklärt.“
Marcel Ophüls wirft Regina Ziegler mittlerweile vor, die Langfassung und die Kinofassung zu vereiteln. Anfang Oktober hatte er die Filmproduzentin bei den Berliner Lektionen öffentlich eine „blöde Ziege“ genannt (siehe taz vom 9.10.). Ophüls bestätigte jetzt noch einmal gegenüber der taz, die ARD habe für die Langfassung Angebote gemacht. Regina Ziegler hätte zwecks Verwirklichung derselben die Rechte von RTLplus zurückerwerben müssen, Ophüls geht davon aus, daß die ARD davon Kenntnis hatte. Er bezweifelt aber, daß die Regina Ziegler Filmproduktion sich je um den Zurückerwerb bemüht hat. Frau Ziegler hatte im Oktober gegenüber der taz betont, daß sie bis zur per Lizenz zugesicherten zweiten Ausstrahlung über eine weitere Auswertung nicht verhandeln könne. Sie bestreitet auch Ophüls' Behauptung, sie habe der ARD gesagt, der Regisseur würde die Langfassung sowieso nie rechtzeitig zum 9.November fertigstellen können. Dieter Schwarzkopf hat aber Ophüls Anfang September einen Brief geschrieben, mit der Bitte um Stellungnahme zu Zieglers pessimistischer Prognose. Schwarzkopf selbst war gegenüber der taz zu einer Klarstellung nicht bereit. Eine der Wahrheitsfindung nicht besonders dienliche Auskunft.
Welche Szenen würde die Langfassung enthalten? Im folgenden Stichworte von Marcel Ophüls. (taz)
1.Ich erinnere an die Tatsache, daß der 9.November nicht nur der Geburtstag des Mauerfalls ist, sondern auch das Datum der „Kristallnacht“ und der Verfolung der Juden. Die Witwe von Joris Ivens erzählt von ihrem ersten, zweiten und dritten Besuch in Leipzig. Der letzte war im November '89, als ein Haufen von Filmfest-Apparatschiks (der Leipziger Dokumentarfilmtage, d.Red.) ihr einen posthumen Preis für das Lebenswerk ihres Mannes überreichte. Ich saß mit ihr in der Hotellobby, sie bereitete ihre Rede vor. In dieser Rede, von der wir einen Videoclip haben, erinnert sie die Apparatschiks und das Leipziger Publikum daran, daß Joris 1968 an der Leipziger Universität Studentenfilme von den Pariser Barrikaden zeigen wollte und eben dieselben Apparatschiks die öffentliche Vorführung von Chris- Marker-Filmen und anderen verhinderten. Nachdem Marceline und Joris die Stadt verlassen hatten, wurden die Studenten, die die Filme dann auf dem Campus gezeigt hatten, exmatrikuliert, ihre Karriere war zerstört. Später am Abend erzählte mir Marceline im Hotel-Restaurant von ihrem ersten Besuch: 1945, in einer gestreiften Uniform, mit kahlgeschorenem Kopf. Der Zug mit den Viehwaggons war auf einem Nebengleis des gigantischen, geisterhaften Leipziger Bahnhofs angekommen. Es war bitter kalt, und die ausgehungerten KZ-Überlebenden versuchten zu entkommen. Viele SS-Wachen waren bereits desertiert; die Russen waren nur 100 Meilen entfernt, so daß die Chance für Marceline und die anderen, in die Stadt zu fliehen, relativ hoch war. Aber die zivile Bevölkerung Leipzigs war in großer Zahl zum Bahnhof gekommen und half den restlichen Wachen dabei, die Häftlinge zu umzingeln und in die Viehwaggons zurückzustoßen.
Mit diesen unangenehmen Erinnerungen konfrontiert, reagiert Michael Kühnen, der Neo-Nazi-Führer, der vor kurzem an Aids gestorben ist, im Film so: „Was hat Ihre Freundin denn erwartet? Die Juden haben doch den Krieg begonnen. Die Juden haben doch Dresden ein paar Tage vorher bombardiert. Also haben sie und die anderen doch bekommen, was sie verdienten, ist es nicht so?“
2.Eine Sequenz mit einer früheren Goldmedaillen-Schwimmerin, die Szene spielt im selben Hotel in Leipzig. Eine stattliche blonde Berlinerin, nach Art von Marlene Dietrich. 1985 wurde sie „republikflüchtig“, heute lebt sie mit ihrem österreichischen Mann in Wien. Ihre Tochter hat einen sehr fragilen Knochenbau, weil Christina früher pfundsweise mit Steroiden und männlichen Hormonen gefüttert wurde, heimlich, seitdem sie zehn Jahre alt war. In Moskau und Mexiko, von wo sie siegreich zu ihren ostdeutschen Trainern zurückkehrte, sah sie aus wie ein leicht aufgedunsener See-Elefant. Nachrichten-Clips von ihren Siegen wechseln mit Szenen, in denen lovely Christina im selben Leipziger Hotel mit ihrem Interviewer flirtet und werden später ihren Peinigern vom Leipziger Sportmedizinischen Institut gegenübergestellt.
3.In der Woche nach dem Fall der Mauer schickte die Panorama-Redaktion von BBC eine Reporterin zum SPD-Bürgermeister von Bremen. Sie zeigt ihn, wie er die Babies im Auffanglager der Stadt küßt und wie er zwei Familien aus der DDR besucht, die einen Monat vorher über Ungarn geflüchtet waren. Im Film interviewen wir die beiden Familien und den netten Bürgermeister. In dieser Szene geraten alle aufgestauten Ressentiments und Konflikte zwischen „Ossies“ und „Wessies“ an die Oberfläche. Die Familien klagen den Bürgermeister an, er habe absolut nichts für sie getan, sein Auftritt sei eine Schmierenkomödie für die BBC und ihre Reporterin gewesen. Und der Bürgermeister erklärt, daß alle diese Leute nur auf die Fürsorge aus seien, daß sie besser zu Hause geblieben wären und sich hätten anstrengen sollen, ihr eigenes Land wieder in Ordnung zu bringen. Eine der beiden Frauen erklärt, daß sie nie wieder in den Osten zurückkehren will, weil ihre Nachbarn ein Haufen von Wohlfahrts-Schnorrern, Stasi-Spitzeln und -Informanten seien, und sie findet, daß diese auf keinen Fall von westlicher Hilfe profitieren und daß sie auch nicht nach West-Deutschland gelassen werden dürften. „Sollen sie doch in ihrem eigenen Misthaufen vor sich hin vegetieren“, sagt sie.
4.Beate Uhse, Deutschlands Porno-Königin, erzählt uns, wie sie all die vielen Kinos in Leipzig und Ostdeutschland aufkauft, im Namen der Demokratie und des freien Unternehmertums. Wir besuchen ihre Fabrik in Flensburg, wo glückliche junge Frauen an Fließbändern arbeiten und große Plastik-Penisse in Postpakete packen. Frau Uhse war Testpilotin in Görings Luftwaffe. Sie ist eine extrem fortschrittliche Unternehmerin, offen und direkt, und sie ist ehrlich davon überzeugt, daß ihr Marktanteil zur sexuellen Befreiung und zur Freiheit des Individuums beiträgt, und zwar weltweit.
Diese Äußerungen werden Bildern von einem blassen, jungen Mann mit Hornbrille gegenübergestellt, er ist Neo-Marxist. Er steht vor einem der heruntergekommenen, leeren Leipziger Kinos und beklagt das Ende des DEFA-Dokfilms und des Joris-Ivens-Festivals. Am Ende erklärt eine andere schöne blonde Frau, die führende DDR-Feministin Frau Doktor Menzel, mit einer tiefen erotischen Stimme, daß sozialistische Frauen ihre eigenen anitkapitalistischen Hardpornos produzieren sollten.
5.In meiner Suite im Berliner Savoy Hotel sitzt die deutsche Filmcrew. Man sieht sie in den Spiegeln, sie interviewen Heiner Müller. Der Tonmann sitzt mit Kopfhörern auf dem Boden, und er fragt Müller, warum die Ostdeutschen so viel fremdenfeindlicher seien als seine Freunde in Frankfurt und München. Müller antwortet. Schnitt zu zwei Nordvietnamesen in einem Leipziger Fleischverpackungs-Betrieb.
Einer der beiden ist Vietminh-Veteran von Hanoi, er erklärt in Pidgin- Englisch, warum er glücklich war, im kommunistischen Europa diese Sklavenarbeit zu finden, und wie wenig die Feindseligkeit seiner deutschen Kollegen mit seiner friedlichen Gesinnung zusammengeht. Der andere kleine Mann ist der Beamte beim Konsulat, der damit beauftragt war, den „Sklavenhandel“ der Regierung von Hanoi zu organisieren, er war der Führer, Dolmetscher und Aufseher der anderen. Es stellt sich heraus, daß die beiden Männer davon träumen, in München zusammen ein vietnamesisches Restaurant zu eröffnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen