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Jugoslawien treibt in Kriegswirtschaft

Milliardenschwere Kriegsschäden und eine kollabierende Wirtschaft werfen das Land um Jahre zurück  ■ Von Erwin Single

„Der erste Hungerwinter ist unausweichlich“, titelte kürzlich das in Kroatien hochangesehene Magazin 'Danas‘. In der umkämpften Teilrepublik fehlt es inzwischen an allem. Die zentralen Verkehrsadern, der Autoput und die Nord-Süd-Eisenbahnlinie sind blockiert, ebenso die kroatischen Adriahäfen, die den Import von Rohöl stocken lassen. Der Luftverkehr ist zusammengebrochen, die Telekommunikationsverbindungen weitgehend gekappt. Kohle, Ersatzteile und Medikamente sind bereits Mangelware. Auch Benzin fließt immer spärlicher, seit die Raffinerie in Sisak durch Bomben zerstört wurde.

In der ostslawonischen „Kornkammer“ sind ganze Getreidefelder niedergebrannt; ein Großteil der Ernte durch Flurschäden vernichtet. Die Versorgung wird von Tag zu Tag schlechter, es steht zu fürchten, daß die Zagreber Regierung um ausländische Lebensmittelhilfen bald nicht mehr herumkommt.

Aber nicht nur Kroatien stehen harte Zeiten bevor: Seit das Land die Erdölleitungen nach Süden gekappt hat, stehen die Menschen an den Tankstellen Schlange. Importe über Griechenland sind nicht mehr möglich, seit die EG den Wirtschaftsboykott über Jugoslawien verhängt hat. Auch in der Belgrader Wirtschaftskammer wird über Lebensmittelrationierungen nachgedacht — untrügliches Zeichen einer beginnenden Kriegswirtschaft.

Alle Teilrepubliken leiden unter dem Krieg, am meisten aber Kroatien. Als die kroatischen Wirtschaftskammern im vergangenen Monat eine erste, wenn auch lückenhafte Schadensbilanz erstellten, beliefen sich die volkswirtschaftlichen Verluste bereits auf rund 15 Mrd. Dollar — fast soviel wie der Umfang des kroatischen Staatshaushalts. Heute dürften die Kriegsschäden weit darüber liegen, allein der Wiederaufbau der zerstörten Städte, Dörfer und Infrastruktureinrichtungen würde zweistellige Milliardenbeträge verschlingen.

Düsterste Prognosen

Seit die Kämpfe zwischen Serben und Kroaten toben, läuft auch die Produktion der Industrie auf Sparflamme. Viele junge Männer haben die Betriebe verlassen und sind in den Krieg gezogen. In den umkämpften Gebieten Slawoniens liegen die Wirtschaftszentren um Vukovar oder Pacrac bereits in Trümmern. Dort, wo die Industrieanlagen noch weitgehend unbeschädigt sind, arbeitet fast niemand mehr. Im September lag in Kroatien, wo sonst fast die Hälfte des jugoslawischen Leistungsbilanz-Überschusses erwirtschaftet wurde, die industrielle Erzeugung um 42 Prozent unter dem Vorjahresstand, in Jugoslawien insgesamt um 24 Prozent. Kroatiens Finanzminister gab düsterste Prognosen für das Jahresende ab: 1,5 Mrd. Dollar geringere Einnahmen, weil die Transportabgaben fehlen, 3 Mrd. weniger, weil die Touristen ausblieben, 80 Mio. weniger, weil die Exporte nach China sinken.

Die Wirtschaft kollabiert. Allein die Verluste der Wirtschaft werden auf über 40 Mrd. Dollar geschätzt. Die wirtschaftliche Produktion werde in diesem Jahr um 50 Prozent sinken, prognostizierte die Belgrader Regierung. Von den verhängten Sanktionen trifft sie vor allem der Stopp der Öllieferungen und die Aussetzung der Handels- und Kooperationsabkommen mit der EG. Ein Drittel des Energieverbrauchs wird mit Erdöl gedeckt. Die EG bezog 1990 Waren in Höhe von rund 15 Mrd. Mark aus Jugoslawien und lieferte im Gegenzug Güter für 17 Mrd. Mark. 75 Prozent des Handels entfallen dabei auf Deutschland und Italien. Die serbische Handelskammer bezifferte die Mehrkosten durch die EG-Saktionen auf rund drei Mrd. Dollar. Doch der Boykott schadet auch Slowenien und Kroatien, deren Wirtschaft unter den Brüsseler Beschlüssen schwer zu leiden hat, solange die beiden Rebubliken nicht anerkannt sind.

Der innerjugoslawische Handel ist völlig zusammengebrochen, was für die hoch arbeitsteilige und eng verzahnte Volkswirtschaft einer Katastrophe gleichkommt. Rohstoffe aus dem Süden, Agrarerzeugnisse aus Mazedonien, dem Kosovo und Serbien, Maschinen aus Slowenien, chemische Produkte aus Kroatien finden nicht mehr zusammen. Welches Desaster der auseinandertreibende Binnenmarkt anrichtet, ist bei der jugoslawischen Automobilproduktion zu beobachten: Der in Serbien montierte „Zastava“, der einen Marktanteil von über 90 Prozent besitzt, wird mit Teilen aus ganz Jugoslawien, vornehmlich aber aus Slowenien und Kroatien zusammengebaut. Seit die Republiken, bereits vor den blutigen Auseinandersetzungen, einen regelrechten Zollkrieg begonnen haben, bleiben wichtige Zulieferungen aus. Die Bänder stehen still; selbst Miteigner Fiat kann nicht helfen. Der zusammengebrochene Warenverkehr zwischen den Republiken hat auch die ausländischen Joint Ventures in Schwierigkeiten gebracht. Wichtige industrielle Beziehungen, vor allem in der Textilindustrie, die im Zuge der Assoziierung Jugoslawiens an die EG aufgebaut wurden, liegen auf Eis.

Auch ohne den Krieg drohte die Wirtschaft zusammenzubrechen. Seit Jahren bekommt die Belgrader Regierung die permanente Wirtschaftskrise nicht in den Griff. Schon 1989 war Titos Selbstverwaltungswirtschaft am Ende; die Inflationsrate betrug über 2.500 Prozent. Die Stabilitätspolitik des Ministerpräsidenten Marcovic brachte nur kurzzeitig Erfolg. Längst ist die Geldentwertung wieder außer Kontrolle geraten. In Belgrad laufen die Dinar- Druckereien wieder auf Hochtouren und heizen die Inflation an. Die Preise kletterten allein im Oktober um über 20 Prozent — im Jahr sind das 800 Prozent. Die Produktivitätsrate sank von 1979 bis 1990 um 17 Prozent. Jugoslawiens Schulden im Ausland betragen inzwischen 14,5 Mrd. Dollar.

In die seit Monaten andauernden Verteilungskämpfe einbezogen sind die Devisenreserven der Belgrader Nationalbank, die inzwischen von über zehn auf rund 3,4 Mrd. Dollar geschrumpft sind. Die Unabhängigkeitserklärungen der beiden Republiken beantwortete Belgrad, deren Zentralbank längst unter dem Kuratel der Serben stand, mit dem Rauswurf aus dem Finanzsystem. Die Folgen: kein Geld aus Belgrad, keine Kredite, keine Auslandsgeschäfte, kein Zugang zu den Devisenreserven. Slowenien flüchtete in eine eigene Währung, den Tolar, doch diese ist international noch nicht anerkannt. Das Musterland Slowenien, dessen Bruttosozialprodukt doppelt so hoch wie das der Serben ist, sah sich mit Kroatien jahrelang in der Rolle des Zahlmeisters. Die beiden Republiken warfen den Serben eine Umverteilungspolitik zu deren Gunsten vor — vor allem durch deren inflationäre Geldpolitik. Die Serben konterten, Slowenien und Kroatien hätten die anderen Republiken jahrelang ausgebeutet. Am Mittwoch mußte nun die Belgrader Regierung eingestehen, daß die Tresore der Nationalbank leer sind. Sie hatte die gesamten Devisenspareinlagen der jugoslawischen BürgerInnen von rund 18 Mrd. Mark von den maroden Staatsbetrieben vergeuden lassen.

Das Bruttoinlandsprodukt dürfte in diesem Jahr um 25 Prozent schrumpfen. Nach Angaben des Belgrader Instituts für Wirtschaftsforschung lebte im vergangenen Jahr ein Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze — inzwischen ist Jugoslawiens Lebensstandard auf das Niveau der 60er Jahre abgesackt. Bereits ein Viertel der 6,6 Millionen Erwerbstätigen ist arbeitslos. Bleiben die Lieferungen von Rohstoffen, Halbprodukten und Ersatzteilen an die Betriebe und Kombinate weiter aus, werden es bald mehr sein.

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