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DIE BESTEN KELLNER DER STADTDie Legende vom »Burgfrieden«

■ Ups und Downs einer Ostberliner Schwulenkneipe, im Bezirk Prenzlauer Berg

Helga ist nicht exotisch, und Helga ist auch keine litauische Gräfin. Helga ist nicht nur die einzige Wirtin einer Schwulenkneipe im Osten, sie ist einzigartig wie Mütter einzigartig sind.

Viele der Gäste, die vor elf Jahren die »Neue« begutachteten, kommen heute noch, meistens Montag. An diesem Tag hatten die anderen Schwulenkneipen zu DDR-Zeiten ihren gewerkschaftlichen Ruhetag mit Parteiversammlung. Draußen vor der verschlossenen Tür stand damals eine Traube Wartender, man reckte den Kopf, um vom Einlasser gesehen zu werden. Zwei raus, zwei rein. Einer raus, drei rein, wer ist das? Jürgen Walther? Kenn ich nicht, Scheiß Privilegien. Bis eines Tages Helga raunte: »Klingel doch einfach am Hintereingang!« Dann gehörte man dazu und fühlte sich den neuen überlegen, die ihre Getränke sofort bezahlten.

Ein paarmal sah ich Gläser füllend die Gästemenge aus Helgas Perspektive — wie junge Spatzen, die tschilpend am Nestrand betteln. Helga kannte alle Namen, sie sah heulendes Elend und verliebt leuchtende Augen, wo ich schwitzend hin und herjagte und Unmengen von Gin Tonic in den Tabaknebel vor der Theke reichte. Fünf Uhr früh starrte ich aus geröteten Augen auf die übriggebliebenen Rechnungen. Helga: »Die bezahlen, wenn sie Geld haben.« Zum jährlichen Fasching kamen Gäste aus Polen, aus der Sowjetunion angereist, erkundigten sich nach dem Termin fürs nächste Jahr, um rechtzeitig den Urlaub beantragen zu können.

1989 ging ihre Tochter in den Westen, im August zählte sie die Verluste: Es war leer geworden vor ihrer Theke. Die wenigen Gebliebenen leckten ihre Wunden und suchten nach Gründen. Am 10. November gab's dann feuchte Augen zwischen all den höhensonnigen Westlern, die den selbstbewußten Schwulen vorführten: Mineralwasser 14 Pfennig? Hahaha! Da hatte Helga Angst um ihre Kneipe.

»Ihre« Leute bestaunten Tom's Darkroom und falls sie doch mal reinschauten, zogen sie nach fünf Minuten genervt wieder ab: »Hast du nicht in Coming out mitgespielt? Ich möchte auch Schauspieler werden.« Klar hatten sie, fast alle — und nun standen sie frustiert draußen und schmiedeten finstere Pläne: Ausweiskontrolle, vielleicht Clubkarten oder so.

Inzwischen ist wieder Osten eingekehrt, und auch einige der neuen aus dem Westen kommen »nach Hause«. Helga wird zu Premieren und Ausstellungen eingeladen, sieht ihre Jungkünstler auf der Leinwand und auf der Bühne und ist überzeugt: Die schaffen es! Die wiederum stricken bei jeder Gelegenheit eine neue Masche an die Legende vom »Burgfrieden« — bloß fotografieren läßt Helga sich nicht. Ab und zu stellt einer Blumen auf die Theke, einfach so.

Angst hat Helga immer noch: Sie hat gehört, wie in andern Kneipen Schwule sich ängstlich zusammendrückten, während die Skinheads am Eingang prügelten. Sie glaubt nicht, daß ihre Gäste sich den Burgfrieden stören lassen würden, aber sie hat schon ihre Vorbereitungen getroffen. Und ein anderes Problem macht ihr schlaflose Nächte: Wenn die Miete erhöht wird, müssen die Preise klettern. »So viel Geld habt Ihr ja nun auch nicht«, sagt sie besorgt und meint es nicht entschuldigend. Ein Gast sagt: »Ihr gewöhnt Euch noch an die Marktwirtschaft.« Allgemeines Schweigen. Er ist erkannt. Holger Siemann

»Burgfrieden«, Wichertstraße, Prenzlauer Berg

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