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In Rußland rollt der Rubel jetzt unkonvertiert

■ Mit Jelzins Dekreten werden die Devisenbeschränkungen aufgehoben, der Außenhandel liberalisiert, die Preise freigegeben/ 200 Rubel Mindesteinkommen

Moskau (afp/taz) — In Rußland ist am Wochenende die von Präsident Boris Jelzin angekündigte radikale Wirtschaftsreform mit Veröffentlichung der entsprechenden Dekrete eingeleitet worden. Die gestern von der amtlichen Nachrichtenagentur 'Tass‘ verbreiteten Erlasse betreffen vor allem die Liberalisierung des Außenhandels, die Freigabe der Preise sowie die Finanz- und Währungshoheit auf dem Territorium der Russischen Föderation.

Die Oberhoheit über Schürfung und Verkauf von Diamanten und Edelsteinen wird künftig ebenfalls bei Rußland liegen. Ausländische Firmen dürfen fortan ihre in Rubeln realisierten Gewinne unbegrenzt in Devisen umtauschen und ins Ausland ausführen. Davon verspricht sich der russische Präsident einen Anreiz für ausländische Investoren und damit eine Ankurbelung der russischen Wirtschaft.

Ein weiteres Dekret stellt für die Zeit ab dem 1. Januar 1992 die interne Konvertibilität des Rubels her und erlaubt zugleich die Eröffnung von Devisenkonten. Der von der sowjetischen Zentralbank festgelegte Umtauschkurs für den Rubel ist ab dann nicht mehr gültig, sondern wird durch Angebot und Nachfrage bei Auktionen, an der Börse, durch den An- und Verkauf ausländischer Währungen bestimmt, wie es in dem Dekret heißt. Die einzige Beschränkung besteht darin, daß die Firmen einen von den russischen Behörden noch festzulegenden Teil der von ihnen erwirtschafteten Devisen an die russische Zentralbank abführen müssen. Mit fiskalen Eingriffen will Jelzin künftig die Geldmenge regulieren. Russische Wirtschaftsexperten hatten mehrfach kritisiert, die Moskauer Zentralregierung lasse zur Finnazierung ihrer Ausgaben Notenpressen rund um die Uhr laufen.

Die Ein- und Ausfuhrzölle der Sowjetunion gelten ab dem kommenden Januar nicht mehr und werden durch eigene Tarife ersetzt, die ebenfalls noch festgelegt werden müssen. Der Außenhandel von Firmen auf dem Territorium der Russischen Föderation unterliegt künftig keinerlei Beschränkungen mehr. Die russische Regierung will künftig nur noch die Ein- und Ausfuhr einiger weniger Waren und Dienstleistungen kontrollieren, deren Liste vor dem 1. Januar veröffentlicht werden soll.

Belastungen der Bevölkerung werden bei dem Crash-Programm in Kauf genommen. Mit drei Dekreten zur Lohnpolitik sollen die negativen Auswirkungen der Preisfreigabe abgefedert und die Bedingungen für einen Produktivitätszuwachs geschaffen werden, wie es hieß. Vorgesehen sind demnach eine Erhöhung der Beamtenbezüge um 90 Prozent, eine generelle Freigabe der Löhne und eine Festsetzung des Mindesteinkommens auf 200 Rubel (umgerechnet knapp 10 D-Mark), also erheblich weniger als das unlängst von Experten errechnete Existenzminimum, das bei über 300 Rubel lag. Allein ein Kilogramm Wurst kostete in den vergangenen Wochen in einigen Moskauer Geschäften bereits 162 Rubel. Über die Hälfte der russischen Familie lebt nach jüngsten Schätzungen der russischen Führung unter der Armutsgrenze.

Wie die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘ meldete, betrifft die Gehaltserhöhung, die am 1. Dezember wirksam werden soll, vor allem die Beamten in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Justiz und Kultur.

Das Arbeitsministerium wurde 'Tass‘ zufolge angewiesen, „unter Berücksichtigung der Qualifikationen und der Produktivität“ der Beschäftigten neue Lohnstaffeln vorzulegen. Das Dekret sieht ferner vor, daß die Behörden selbst die Höhe der Prämien und anderen Vergütungen festlegen, die zur Leistungssteigerung anspornen sollen. Das Verteidigungsministerium wurde beauftragt, innerhalb einer Woche ein Programm für die Erhöhung der Gehälter der Armeeangehörigen, der Ministerialbeamten und der Arbeiter in den Rüstungsunternehmen auszuarbeiten.

Das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit soll Maßnahmen treffen, damit die Betriebe im Norden Rußlands, wo die Löhne wegen der schweren Arbeits- und Klimabedingungen erhöht werden sollen, diese selbst festlegen können. Auch die Regierungen der autonomen Republiken und Regionen in der Russischen Föderation sowie die Städte Moskau und Sankt Petersburg sollen die Einkommenstarife ihrer Beamten selbst bestimmen. Berechnet werden müssen die Erhöhungen jedoch auf der Grundlage der nach dem 1. April 1991 festgelegten Gehälter, als die sowjetische Regierung eine allgemeine Preiserhöhung beschlossen hatte.

Unter den Druck der Versorgungskrise und den horrenden Auslandsschulden wird Russland ab dem 1. Dezember ferner seine Erdölausfuhren durch die Rücknahme von Exportlizenzen einschränken, um Rücklagen für den Winter zu behalten. Diese Maßnahme hatte der russische Wirtschaftsminister Jegor Gajdar bereits am Freitag angekündigt, ohne auf die Größenordnung der Reduzierung einzugehen. Die Exportlizenzen betreffen etwa 100 bis 150 Millionen Tonnen Öl, was etwa 30 Prozent der gesamten russischen Ölproduktion ausmacht. Rußland fördert etwa 80 Prozent des sowjetischen Öls.

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