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Monsterlieben

„Theaterformen“ in Braunschweig — ein Gastspiel aus Rumänien und ein neuer Tabori  ■ Von Sabine Seifert

Sie wirken wie Botschafter ihres Landes. Allgemein klingen die an sie gerichteten Fragen, die sie allgemein ausholend beantworten. Die Theater sind leer. Das Theater findet draußen, auf der Straße statt. Es gibt täglich Demonstrationen, Streiks, Wahlkampagnen, viel Theater. Es lebt von der Hand in den Mund, wie alles und jeder in Rumänien. Stagnation, doch die Regierung ist nur noch fünf Monate im Amt. Auch der Kulturminister, der über ein Kulturbudget verfügt, das ganze 0,33 Prozent des gesamten Staatshaushaltes ausmacht. Was könnte der ausrichten?

Ion Caramitru, Theaterdirektor des zweitgrößten Theaters von Bukarest sowie Präsident des Theaterverbandes, und Silviu Purcarete, Regisseur und Intendant im südwestrumänischen Craiova, stehen bei einem Round table, der im Braunschweiger Theater im Rahmen des Festivals „Theaterformen“ organisiert wurde, Rede und Antwort. Wie das eben so geht, wenn Dolmetscher notwendig werden: die Kommunikation ist schwerfällig, als ob die Diskutanten Mitglieder von Regierungskommissionen seien, die sich beim Gastmahl die Appetithäppchen gegenseitig über den Tisch zuschieben und nie zum Essen kommen, weil sie immer noch einen Toast aussprechen müssen.

Eine Geschichte — inzwischen ist man aufs Englische umgestiegen — ist eindrucksvoll, bleibt hängen. 1977 entschied Ceausescu, die Subventionen für die Kulturinstitutionen zu drosseln. Sie sollten Profit abwerfen. Also schreinerten die Theaterwerkstätten statt Bühnenbildern Särge und verkauften diese: auch begraben mußten sich die Leute selbst.

Das rumänische Volk hat gejubelt über den Tod des Ehepaars Ceausescu. Und das Volk jubelt auch an den Särgen von König Ubu und seiner Madame Schreiße. Blumen, Kränze, alles Erforderliche ist vorhanden. Die Conferenciers der fürs Fernsehen vorgesehenen Zeremonie und Show eilen herbei, ihren Text noch immer wie eine in rotes Plastik gebundene Preisurkunde vor sich her tragend. Der Chor formiert sich. Verrat: die Särge öffnen sich, unsere Leichen leben noch. Flotte Musik setzt ein, fröhlich machen die Totgeglaubten winke, winke. Heiter-makabres Schlußbild einer Inszenierung von Silviu Purcarete, der Alfred Jarrys Jahrhundertstück König Ubu für sein Theater in Craiova inszeniert hat, eine Arbeit, der er Szenen aus Shakespeares Macbeth untergemengt hat.

König Ubu und seine Frau (beide Rollen werden von Männern gespielt) sind zwei eklig aufgedunsene, grotesk dicke und weiß-puderhäutige Wesen, die kugelnd übereinander herfallen, keifend, kneifend, die geballte Faust in der Tasche der Kleinbürger, die endlich zuschlagen kann, die inkarnierte Raff- und Rachsucht. „Ich habe eine bestimmte Sympathie für diese Art von Ungeheuer“, hat Purcarete in einem englischen Zeitungsinterview geäußert, „weil in bestimmten Situationen Ungeheuer sehr unterhaltsam sind. Sie müssen verstehen, daß Ceausescu — es ist unmöglich, diese Parallele zu verhindern — sehr komisch war. Wenn dein Blick nicht vom Haß, vom Elend, von all diesen Dingen verstellt ist, beginnst du sehr genau zu denken. Ubu ist wie eine Puppe. Dieses kleine Monster kann sehr sympathisch sein, so bin ich mit ihm umgegangen. Ich habe es nicht nötig, meinen Haß zu zeigen.“

Also macht er eine Show daraus. Gleich zu Anfang treten die Conferenciers, ein Mann und eine Frau, auf; der Chor der grauen Masse gesellt sich zu ihnen auf die Bühne, noch ist der Vorhang geschlossen. Einer kommt immer zu spät. Die Leute, Männer wie Frauen, tragen weißgraue Schlotteranzüge mit Schlipsen und Mützen, die unter dem Kinn zugeknöpft werden. Ein gigantischer Akt der Selbstbeschwörung läutet das Schauspiel ein. „Ich habe 3 Knöpfe, ich habe 5 Knöpfe“, sagen die Conferenciers, meinen die Chormitglieder und tasten ihre Jacke ab. „Ich habe 40 Knöpfe, ich habe zigtausend Knöpfe“, steigert sich der Chor in Emphase. Laute Musik, der Kaiserwalzer von Strauß, setzt ein, der Vorhang geht auf, und aus dem Bühnenhintergrund schiebt Mutter Ubu ihren Gatten auf einer Schubkarre ins Licht.

Später wird das neue Königspaar vom Chor neu eingekleidet, immer wieder wird die Handlung von Père Ubu kommentiert, in sie eingegriffen. Spielt Purcarete die beiden ersten Akte noch durch und aus, verkürzen sich die letzten drei immer mehr, vermengen sich gar mit den entscheidenden Parallelszenen aus dem Shakespeare-Drama von den anderen Königsmördern, dem Ehepaar Macbeth. Fast slapstickhaft laufen die beiden Dramen ab einem bestimmten Punkt wie zwei Tonbänder parallel, um dann plötzlich ineinander zu geraten. Ubu spricht Macbeth, und Macbeth droht aus seiner Lady „eine Frikadelle zu machen“, Schreiße.

Als Requisiten dienen so etwas Ähnliches wie Servierwagen auf Rädern, kleinere in Tischgröße und ganz hohe, die als Tribüne für die Staatsaffären herhalten. Purcarete verläßt sich nicht allein auf die allgemein-politische Aussagekraft des bald hundertjährigen König Ubu (1896 uraufgeführt) von Jarry. Er zitiert Shakespeare, er läßt die Conferenciers eigene Texte sprechen, doch bliebe diese Dekonstruktionsarbeit reine Verdoppelungsstrategie, wenn es ihm nicht außerdem gelänge, sehr genaue, eindrückliche Bilder von Rumänien zu schaffen, die etwas von dessen spezifischer Atmosphäre vermitteln. Rumänien, das habe ich verstanden, braucht Botschafter.

Das kleine Festival in Braunschweig, von der Stiftung Niedersachsen, vom örtlichen Theater und der Agentur Hahn & Molitor veranstaltet, hatte sich zwar in diesem Jahr kein festes Thema oder einen bestimmten Autor gesetzt, aber es bot in und um das Thema Identität herum — politisches Theater. Einer der Garanten des politischen Theaters, auf den in solchen Fällen nie Verlaß ist, heißt George Tabori. Als Auftragsarbeit — und in Koproduktion mit dem Staatsschauspiel München, wo das Stück in einigen Tagen seine zweite Premiere erleben wird — bearbeitete er Lessings Nathan der Weise, das im übrigen in Braunschweig daselbst uraufgeführt worden ist. Taboris neues Stück Nathans Tod wurde nun in der nahebei liegenden Stadt Wolfenbüttel, wo Lessing die letzten Jahre seines Lebens als Bibliothekar verlebt hat, zur Uraufführung gebracht.

Tabori hat rigoros gestrichen, gnadenlos umgestellt, umgeschrieben. Seine Recha ist ein verstörtes jüdisches Mädchen, das in einem Handkarren verkohlte und blutbeschmierte nackte Puppenleiber spazierenfährt. Keine Kommunikation entsteht mit dem Tempelherrn, der hier als junger kriegsversehrter Soldat daherkommt und keineswegs Freundschaft mit Nathan schließt, sondern ihn am Ende beim christlichen Oberhaupt der Stadt, dem Patriarchen, denunziert. Das weltliche Oberhaupt, Sultan Saladin, ist ein machtgieriger und unbeherrschter Herrscher, der seinem Schatzmeister Al Hafi lächelnd die Hand zerquetscht, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, und inzestuös seiner Schwester Sittah (gespielt von Leslie Malton, die auch das Mädchen verkörpert) um den Hals streicht. Nur Nathan scheint zunächst ganz der alte, im zeitlos schwarzen Anzug mit Hut; doch fehlen ihm von vornherein Schwung, Dynamik, die Power des kleinen David gegen den großen Goliath. Nathan ist ein gebrochener und am Ende ein toter Mann. Nicht er, sondern das Mädchen wird von den Soldaten, die sich zu Beginn wie wilde Tiere sexuell an Stühlen abarbeiten, diese kleinhauen und dann ordentlich aufsammeln, umgebracht; Nathan erleidet einen normalen Tod, Herzschwäche wahrscheinlich.

Tabori hatte ein paar gute und ein paar schlechte Einfälle, die jungenhaft, dilettantisch und schlimmstenfalls platt wirken. Gehen wir zunächst darüber hinweg und kommen zu den guten, auf die man schließlich erst mal kommen muß. Wie so oft wird Nathan auf dem Weg zu Saladin Opfer eines Übergriffs von Soldaten; diesmal wird er nicht ausgeraubt, sondern ihm wird ein Glas klarer Flüssigkeit in den Rachen geschüttet, Schnaps. Und so gelangt Nathan bereits in angetrunkenem Zustand beim Sultan an, der ihn immer weiter vollaufen und bei der Frage „Kennen Sie die Geschichte...“ mit der barschen Antwort „Meinen Sie die mit den drei Ringen?“ auflaufen läßt. Das Kernstück der Geschichte vom möglichen Zusammenleben der drei Weltreligionen, die Ringparabel, hat ausgedient, ist abserviert. Nathans Haltung ist durch den Suff ohnehin dahin.

Taboris Schwachpunkt bei dieser Inszenierung ist nicht etwa, daß er Lessings Drama die Utopie verweigert, die Unvernunft aus der Vernunft rausliest; störend sind die Ungenauigkeiten, Unbestimmtheiten, die er mit dem Deckmantel des andächtigen Schweigens über den Opfern, den alten und den neuen, ausbreitet. Nichts spricht gegen seine Vision, daß am Ende die neue Technokratie und Diplomatie — in Gestalt des Sultans, des Patriarchen und des Tempelherrn — mit Sektgläsern aufeinander anstoßen, während in der Ecke Nathan am Boden verreckt. Aber dann kommt Sittah hinzu, des Sultans geknechtete Schwester, faltet ihm die Arme auf der Brust, legt ihm die für seine Tochter gekaufte Puppe in den Arm und zieht ihm den Ring vom Finger. Um dann, o holde unterdrückte Weiblichkeit, ebenso zu sterben. Eben das hat Tabori falsch verstanden: Frauen mögen keine Botschaften.

Nathans Tod von George Tabori nach Gotthold Ephraim Lessing. Regie: George Tabori. Bühne: Marietta Eggmann, Ernst Wiener. Mit Daniel Friedrich, Stefann Wigger, Leslie Malton, Daniel Hirsch, Hans Peisbergen, Nik Neureiter, Thomas Kylau. Eine Koproduktion mit dem Bayerischen Staatsschauspiel München, wo das Stück am 24.11. Premiere haben wird.

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