Strategien gegen doppelte Spaltung

DGB diskutiert mit Sozialwissenschaftlern über Ausgrenzung im vereinigten Deutschland  ■ Aus Hattingen Martin Kempe

„Die Betonung liegt auf dem Ausrufungszeichen.“ Diskussionsleiter Ulrich Mückenberger, Hochschulprofessor an der Hamburger Hochschule für Politik und Wirtschaft, wollte mit diesem Hinweis eine Diskussion zuspitzen, die an die Fundamente des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses geht: „Ende der Vollbeschäftigung!“ war das Thema einer der vier Arbeitsgruppen auf dem Hattinger Forum, das sich mit Chancen und Gefährdungen gewerkschaftlicher Politik im vereinten Deutschland beschäftigte. Mit dem Ausrufungszeichen ist eine der Bedingungen formuliert, von denen Gesellschaftspolitik nach dem Herbst 1989 auszugehen hat: Vollbeschäftigung wird es im nun seit zwei Jahren vereinten Deutschland nicht geben. Ob einem das nun paßt oder nicht.

Das vom Deutschen Gewerkschaftsbund in der DGB-Bundesschule Hattingen veranstaltete Forum, zu dem sich 180 Teilnehmer aus Gewerkschaften, Parteien, Wissenschaft und Öffentlichkeit eingefunden hatten, war ein erster Versuch, im politisch vereinten, gesellschaftlich gespaltenen Deutschland Wege zu einer neuen Reformpolitik zu suchen. Der Titel war bewußt doppeldeutig gefaßt: „Modernisierung — Gewerkschaften zwischen Marginalisierung und Zukunftsfähigkeit“. Denn Marginalisierung droht nicht nur den durch Modernisierung besonders gefährdeten Beschäftigtengruppen. An den Rand gedrängt werden könnte auch die Gewerkschaft als Interessenvertreterin aller abhängig Beschäftigten, wenn es ihr nicht gelingt, die Chancen der Modernisierung zu nutzen.

Schon in der alten Bundesrepublik ist ihr das kaum gelungen. Während große Teile der qualifizierten Beschäftigten von den Modernisierungsprozessen profitiert haben, sowohl Einkommen als auch Arbeitssituation verbessern konnten, wurden andere Gruppen zunehmend in ungeschützte Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit und Armut gedrängt. Der letzte große Wurf der Gewerkschaften war die Auseinandersetzung um die Wochenarbeitszeitverkürzung mit jenem inzwischen legendären, fast zweimonatigen Arbeitskampf von 1984, der den Durchbruch zur 35-Stunden-Woche brachte. Die Strategie der Wochenarbeitszeitverkürzung zielte auch auf Arbeitsumverteilung zugunsten der Arbeitslosen, bündelte also die Interessen der Beschäftigten und der von Marginalisierung bedrohten Altbundesdeutschen.

Zwar sind die Erfolge dieser Strategie inzwischen bis ins Arbeitgeberlager hinein unbestritten. Aber die Massenarbeitslosigkeit konnte dennoch nicht beseitigt werden. Mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in Ostdeutschland sind die Chancen, daß alle Menschen ihre Existenz durch Erwerbsarbeit sichern können, auf Null gesunken: Ende der Vollbeschäftigung — auch als gewerkschaftliches Ziel?

Soweit will DGB-Vorsitzender Heinz-Werner Meyer nicht gehen. Die Gewerkschaften als „Anwalt sozialer Gerechtigkeit“ müßten einen Weg finden, die „doppelte Spaltungslinie“ in Deutschland zwischen Reichtum und Armut, zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen zu überwinden. Dabei gehe es nicht allein um das Teilen zwischen Kapital und Arbeit, sondern um ein Gesamtkonzept für eine „sozial gerechte Verteilungspolitik, die die Starken dieser Gesellschaft in die Pflicht nimmt und zugleich doch nicht darauf verzichten kann, auch von den Schwächeren zugunsten der ganz Schwachen Lasten abzuverlangen“.

Elemente einer solchen Strategie wurden auf der Tagung sichtbar. Meyer nannte als Beispiel die Vorschläge der IG Metall, ost- und westdeutschen Beschäftigten Möglichkeiten zur Beteiligung an einer zu gründenden Industrieholding der Treuhand zu verschaffen, deren Aufgabe die Sanierung ostdeutscher Betriebe sein soll. Auch „eine bedarfsorientierte soziale Mindestsicherung“ zählt er — über die derzeitige gewerkschaftliche Beschlußlage hinausgehend — zu den Instrumenten, mit denen besonders in den neuen Ländern der „Absturz ins Bodenlose“ verhindert werden könnte. Und schließlich rückte er doch wieder die Arbeitszeitpolitik in den Mittelpunkt der Diskussion.

Eine Neuauflage des Kampfes um die Wochenarbeitszeitverkürzung wird es dennoch nicht geben. Das „Hattinger Forum“ wies andere Wege der Arbeitszeitverkürzung, weg von dem Einheitlichkeitswahn einer für alle gleichen Wochenarbeitszeit, hin zur individuellen Gestaltung der Arbeitszeit durch die Beschäftigten. Unter dem Strich, so der Sozialwissenschaftler Dietrich Lange, könnte auf diese Weise die „Befreiung von der Arbeit“ mit der „Befreiung in der Arbeit“ verknüpft werden — und zwar auch für jene Menschen, die derzeit unfreiwillig von aller Arbeit befreit und ausgegrenzt werden.