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DOKUMENTATIONDrei Vorschläge für Jugoslawien

■ Ein Appell von elf Schriftstellern: „Jugoslawien ist genauso wichtig wie Kuwait“

Wieder einmal zerfleischen sich die Völker Jugoslawiens in einem brudermörderischen Krieg ohne Ziel, der heute Dubrovnic und Vukovar zerstört und der sich morgen weiter ausdehnen könnte.

Vergangenheit gegen Vergangenheit, Religion gegen Religion, Volk gegen Volk, Tote gegen Tote: Das ganze Land droht in einer Vendetta ohne Ende zu versinken.

Wie legitim auch immer die Sache der jeweiligen Seite sein mag: Wenn Waffen und Blut gewählt werden, dann dürfen wir uns nicht auf die Seite einer Sache gegen die andere, auf die Seite eines Nationalismus gegen den anderen stellen — selbst dann nicht, wenn, wie jetzt, das Ungleichgewicht der Kräfte so groß ist, daß die Bevölkerung Kroatiens der „Bundes“-Armee auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.

Für all diejenigen, die zugeben, daß dieser Krieg das schlechteste Mittel ist, um politische und menschliche Fragen zwischen Gemeinschaften zu lösen, und daß es Aufgabe aller Menschen guten Willens ist, einen Versuch zu machen, die kollektiven Leidenschaften wenigstens „abzukühlen“, drängen sich drei Konsequenzen auf:

1. Da bislang jede Perspektive einer politischen Regelung des Konfliktes fehlt, ist Imperativ Nummer eins die bedingungslose Einstellung der militärischen Operationen. Als zweites müssen die Krisenzonen unter internationale Garantie gestellt werden. Das Hin und Her der Europäer hat schon zulange gedauert. Jugoslawien ist genauso wichtig wie Kuwait. Europa muß mit all seinem Gewicht intervenieren, mit oder auch ohne die Einwilligung der Beteiligten. Seine Glaubwürdigkeit und Zukunft stehen auf dem Spiel.

2. Es geht keineswegs darum, „mit heißer Nadel“ Grenzen zu verändern, Staaten und Völker zu zerstückeln. Statt dessen müssen dort Provisorien eingerichtet werden, wo heute Maximalpositionen und Träume von definitiven Lösungen vorherrschen. Der Weg, den Neu-Kaledonien gestern gegangen ist, den Kambodscha heute geht: Das ist auch der Weg für Jugoslawien, wenn das Abgleiten in ein allgemeines Massaker verhindert werden soll. Wenn die Bevölkerungen, Geiseln von Politik und Propaganda, ihre Leiden und Wunden einmal zurückstellen, dann — und das ist notwendig — werden sie den Faden ihres Zusammenlebens neu knüpfen.

3. Um im Osten Europas und darüber hinaus den Aufstieg von Nationalismen und Balkanisierung zu bremsen und um zugleich die Rechte der Minderheiten zu sichern, müssen dringend neue Formen der Assoziierung zwischen den Völkern erfunden werden, die von der Macht der Tatsachen dazu aufgerufen sind zusammenzuleben. Doppelte Staatsbürgerschaft für die gemischte Bevölkerung in Kroatien und anderswo; doppelte Nationalität — eine nationale und eine europäische — für die ethnischen Minderheiten; europäische Supranationalität, zeitweilig oder definitiv, für alle bedrohten Minderheiten: Für all diejenigen, die sich weigern, Fieberträumen von Identität und Chauvinismus zu weichen, fehlt es nicht an Wegen, die ausprobiert werden können.

Ungeachtet dessen, welches unser Heimatland, unsere Ansichten und unser politisches Engagement sind: In dieser Situation ist der Friede das kostbarste gemeinsame Gut. Er liegt in aller Interesse und ist unser aller Pflicht.

Während die Zahl der Opfer von Stunde zu Stunde wächst, die Zerstörungen immer schneller zunehmen, appellieren wir an die jugoslawischen Soldaten, unverzüglich den Kampf einzustellen.

Wir appellieren an die Bürger Jugoslawiens, unsere europäischen Brüder, sich über ihre Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft klarzuwerden. Wir appellieren an die Politiker Europas, sich noch einmal dieser Sache anzunehmen und die Friedensmission zu akzeptieren, die wieder auf die internationale Gemeinschaft zukommt.

Das Feuer am gemeinsamen Haus ist gelegt. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien wäre unser aller Niederlage und Schande.

Unterschrieben haben diesen Text: Jean-Toussaint Desanti, Peter Handke, Ismail Kadaré, György Konrad, Bernard-Henri Lévy, Claudio Magris, Edgar Morin, Peter Schneider, Jorge Semprun, Mario Vargas Llosa und Elie Wiesel.

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