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Die Formel eins auf Kufen

■ Impressionen vom Eisschnellwettlauf-Weltcup im Sportforum Hohenschönhausen

Wer nach Hohenschönhausen fährt, muß schon einen triftigen Grund dafür haben. Die lange Anreise mit Bus und Bahn, quer durch die vormalige Stasi-Hochburg und aktuellen Jagdgründe Lichtenberger Hooligans, ließe sich sonst kaum verantworten.

Aber wenn Olympia ruft, darf man sich vor nichts und niemandem fürchten. Und Albertville 1992 hing am vergangenen Wochenende über dem 55 Hektar großen Sportforum Hohenschönhausen. Beim Weltcup der Eisschnelläufer sollte die olympische Saison mit Pauken und Trompeten »eingeläutet« werden. Dieser sprachliche Mißgriff paßt ins Senatsprogramm der »Sportstadt Berlin«, das im Vorfeld die Veranstaltung an zwei unterschiedlichen Stätten ankündigte: die Männlein unter freiem Himmel im Wilmersdorfer Eisoval, die Weiblein in Mielkes überdachtem Kühlschrank an der Hohenschönhausener Konrad-Wolf-Straße — so wie früher halt, als es noch eine DDR und damit eine zugkräftige Konkurrenz gab. Daß mit der Staatsgrenze auch die Geschlechtertrennung im Eisschnellaufen aufgehoben wurde, scheint sich offensichtlich nicht überall herumgesprochen zu haben...

Besonders olympiaverdächtig ging es am Tatort Sportforum fürwahr nicht zu. Nur wenige Menschen wollten die Formel eins auf Kufen bei der Arbeit bewundern. Gebückt, als wollten sie die Elastizität ihrer Rennanzüge testen, glitten die Kufenkönige über das Eis der architektonisch reizvollen Anlage. 500 und 1.500 Meter standen am Freitag abend auf dem Programm. 500 Meter — die Königsdisziplin der Branche, seitdem Erhard Keller, der Münchner Zahnarzt mit dem bohrenden Blick, 1968 und 1972 olympisches Edelmetall für die alte Bundesrepublik errang und mit sensationellen Weltrekorden eine neue Epoche einläutete.

Alles neu macht der Mey, jubilieren nunmehr die bundesdeutschen Funktionäre, die mit der Disqualifikation der DDR unerwartet Verstärkung erhielten. Die Neuen aus Berlin, Chemnitz oder Erfurt — allen voran der Olympiasieger von 1988 über die Keller-Strecke, Uwe-Jens Mey (SC Berlin) — haben in der Republik ein Nord-Süd-Gefälle entstehen lassen. Galt früher Inzell in Oberbayern als die Eisdiele der Nation, so ruhen heute die Hoffnungen aus naheliegenden Gründen auf Berlin, weil sich hier Uwe Mey, Peter Adeberg, Angela Hauck oder Sprintweltmeisterin Monique Garbrecht die schnellsten Schlittschuhe der Welt unterschnallen. Sehr zum Leidwesen der Funktionärskaste, die sich im artgerechten alpinen Bierdunst von Inzell immer sauwohl fühlte.

»Ich konzentriere mich im Hinblick auf die Olympischen Spiele ganz auf die 500 und 1.000 Meter«, sprach »uns Uwe-Jens«, der auf dem alten Rückweg aufs Siegerpodest in erster Linie den US-Boy Dan Jansen, den Russen Igor Schelesowski sowie eine ganze Armada japanischer Sprinter in Schach halten muß. Monique Garbrecht (TSC Berlin) rechnet hauptsächlich mit Bonnie Blair (USA) als Widerpart.

Favorit Mey begann mit einem fast klassischen Fehlstart über 500 Meter. Schon in der ersten Kurve lag er nach übermäßig langer Reaktionszeit hinter seinem Gegner zurück, doch dann zeigte der angehende Diplom-Sportlehrer, weshalb ihn die Kenner der Materie für schier unschlagbar halten. Wie Mister Aerodynamik höchstpersönlich schoß er auf die Gegengerade und hatte flugs ein deutliches Stückchen Eis zwischen sich und seinen aufmüpfigen Verfolger gelegt. Auf dem Rest der Strecke lief sich der 28jährige gebürtige Warschauer in einen wahren Sprintrausch hinein und flog nach 36,91 Sekunden über die Ziellinie — neuer Bahnrekord, fünf Hundertstelsekunden schneller als er selbst vor wenigen Jahren. Die Niederlage für Dan Jansen (zweiter Platz in 37,02 Sekunden) und Weltmeister Igor Schelesowski (dritter in 37,38 Sekunden) waren besonders bitter, weil man bei regulärem Start des Berliners noch getrost ein, zwei Zehntelsekunden hätte abziehen dürfen.

Offensichtlich wollte die deutsche Damenriege die Mey-Tour kopieren — und scheiterte kläglich. Monique Garbrecht und Angela Hauck, die Frau des Handballnationalspielers Stephan Hauck, konnten über dieselbe Distanz der Siegerin Bonnie Blair (40,62 Sekunden) nach über 41 Sekunden Laufzeit nur verträumt hinterherblicken. »Enttäuschend«, war die Reaktion im Lager der Offiziellen. Vielleicht sollten sie, statt zu motzen, besser Kontakt mit dem Leichtathleten und weltbekannten Frühaufsteher Jürgen Hingsen aufnehmen, der den schwarzrotgoldenen Eisflitzern sicherlich gerne Nachhilfeunterricht im Fach »Blitzstart« geben würde. Jürgen Schulz

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