: Kommunistische Inquisitionsrituale
■ Mit dem Putsch vom 17. Juni 1953 soll der damalige Chefredakteur der SED-Zeitung 'Neues Deutschland‘ angeblich den Sturz Walter Ulbrichts geplant haben/ Der Autor Helmut Müller-Enbergs rekonstruiert in seinem Buch „Der Fall Rudolf Herrnstadt“ die politischen Ereignisse und deren Folgen
Wer waren die Schuldigen in der DDR, als Walter Ulbricht nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 seine Machtposition behauptete und festigte? In seinem Buch „Der Fall Rudolf Herrnstadt“ rekonstruiert Helmut Müller-Enbergs das politische Umfeld dieser Zeit. Bekanntlich handelte es sich nach der offiziellen SED-Sprachregelung beim 17. Juni um eine „faschistische Provokation“ von „Agenten des Imperialismus“.
Sündenbock Nr. 1 war der Chefredakteur des 'Neuen Deutschland‘ Rudolf Herrnstadt, der — so SED- Führer Fred Oelssner — „im Zentralorgan die Arbeiter zum Widerstand gegen die Regierung an(leitete)“. Herrnstadt sei, zusammen mit dem Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, Anführer einer parteifeindlichen Fraktion gewesen, deren Ziel der Sturz Walter Ulbrichts, letztlich aber die Wiederherstellung des Kapitalismus in der DDR gewesen sei.
Methoden wie im Mittelalter
Herrnstadt hatte zwar Kritik an dem autokratischen Stil Walter Ulbrichts geübt, ohne aber dessen Ablösung geplant zu haben. Und mitnichten ging es dem orthodoxen Kommunisten um die Abschaffung des Sozialismus. Das interessanteste Kapitel in diesem Buch beschreibt aus führlich das Verfahren, in dem Herrnstadt und Zaisser aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen wurden. Der Verlauf der entscheidenden 15. ZK- Tagung vom 24. bis 26. Juli 1953 erinnert in vieler Hinsicht an die Methoden mittelalterlicher Inquisition.
Zunächst wurden Vorwürfe gegen Herrnstadt und Zaisser konstruiert, die — wie der Autor belegt — mit den wirklichen Geschehnissen fast nichts zu tun hatten. Die Beteiligten versuchten, sich mit absurden Vorwürfen gegen Zaisser und Herrnstadt gegenseitig zu übertreffen. Es kam zu einem eifrigen Wettstreit, in dem als Sieger gelten konnte, der die Ausgestoßenen am unerbittlichsten, unfairsten und unversöhnlichsten attackierte.
So meinte Propagandachef Kurt Hager, die Zaisser/Herrnstadt- „Plattform“ müsse zurückgewiesen werden, weil sie die Partei und die Arbeiterklasse „unter den Einfluß der bürgerlichen Ideologie zu bringen sucht, die eine völlige Wiederherstellung der kaptalistischen Ordnung in der DDR“ bewirke, „die Angliederung oder Eingliederung in den angeblich demokratischen, in Wirklichkeit aber erzreaktionären Adenauer-Staat“. Fred Oelssner sprach seine Genugtuung darüber aus, daß „unsere Partei ... dieses Geschwür aus ihrem Körper beseitigt hat“ — das „Geschwür“ waren die ehemaligen führenden Parteigenossen Zaisser und Herrnstadt.
Ebenso abstoßend wie lächerlich wirkt die Phrasenhaftigkeit der Stereotypen, mit denen in kommunistischen Inquisitionsverfahren gearbeitet wird: „Kapitulantentum“, „Trotzkismus“, Menschewismus“ usw. — so lauten die Vorwürfe, die man, mangels eigener Fantasie, aus den Fraktionskämpfen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion entlehnt hatte.
Herrnstadt beschrieb später in seinen Erinnerungen die Stimmung auf der 15. ZK-Tagung so: Die Anwesenden seine „mit wachsender Erregung“ den Ausführungen gefolgt; „es begann sich das Bild abzuzeichnen, daß im Saal zwei verkappte Erzfeinde der Arbeiterklasse und der Partei sitzen, deren ganze Verworfenheit noch gar nicht absehen ist. An mir hingen beständig die überlegenden, teils auch schon haßerfüllten Blicke von Dutzenden von Genossen ... An einigen Stellen versuchte ich mich zu wehren, was infolge des Drucks des empörten Plenums auf uns von Minute zu Minute schwieriger wurde.“
Selbstkritik und Einsichtsfähigkeit
Zu den Methoden der Inquisition gehörte auch, daß dunkel Hintergründe und Zusammenhänge angedeutet wurden, über die man nicht genauer sprechen könne, die aber ungeahnte Abgründe vermuten ließen. So wurde ein Zusammenhang mit dem Fall des sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrentij Berija konstruiert, der kurz zuvor abgesetzt worden war. Die Furcht, ihnen können ähnliches geschehen, aber auch die verinnerlichten Normen der leninistischen Parteidisziplin, brachten Zaisser und Herrnstadt schließlich dazu, die in kommunistischen Inquisitionsritualen unentbehrliche „Selbstkritik“ zu üben.
Beide erlärten, ihnen sei es zwar zunächst schwergefallen, die Berechtigung der Vorwürfe einzusehen, aber schließlich müßten sie sie doch „als objektive Wahrheiten anerkennen“. Herrnstadt: „Ich habe Fehler gemacht, und ich bin entschlossen, die Fehler, die ich gemacht habe, einzusehen, zu bekennen und zu überwinden. Ich stehe hier also nicht, um mich zu verteidigen, sondern um zu versuchen, von mir aus dazu beizutragen, zu erklären, wei es zu den Fehlern kommen konnte, worin die Fehler bestanden haben und welche Lehren zu ziehen sind.“ Allerdings fügte er noch hinzu: „Aber was nicht wahr, was objektiv nicht wahr, das kann ich nicht eingestehen.“ In Wirklichkeit mußte er jedoch zahlreiche nie begangene Verfehlungen zugeben, um damit seine Bereitschaft zur Selbstkritik und seine gefährlichsten Vorwürfe (so die Zusammenarbeit mit Berija) zurückweisen zu können. Schließlich sah sich Herrnstadt genötigt zuzugeben, seine Gespräche mit Zaisser seien „verbrecherische Besserwissergespräche“ gewesen.
Nicht nur die Analyse der als „Plattform“ bezeichneten Ausarbeitung Herrnstadts, sondern auch sein ganzer Werdegang zeigt die Absurdität dieser Bezichtigungen und Selbstbezichtigungen. Der Autor verbindet seine Schilderung des „Falles Herrnstadts“ mit einer ausführlichen Biografie des kommunistischen Funktionärs. Herrnstadt, 1903 geboren, arbeitete nach seinem abgebrochenen Jurastudium als Lektor, Schriftsteller und Journalist, war schließlich beim angesehenen 'Berliner Tageblatt‘. Trotz seiner jüdischen Herkunft konnte er dort bis zum März 1936 namentlich gezeichnete Artikel veröffentlichen. Im November 1929 trat Herrnstadt der KPD bei; in den dreißiger Jahren arbeitete er für den sowjetischen Geheimdienst, floh 1939 in die Sowjetunion, war dort 1940 bis 1942 im Generalstab der Roten Armee tätig. Dogmatisch vertrat er den sowjetischen Standpunkt, auch gegen abweichende Einschätzungen deutscher Kommunisten.
Herrnstadts Appell an die Massen
Herrnstadt spielte eine nicht unbedeutende Rolle in der sowjetischen Deutschlandpolitik, so war er beispielsweise Mitverfasser vom Manifest des Nationalkomitees Freies Deutschland und ab 1943 auch Chefredakteur der Zeitung 'Freies Deutschland‘, des Organs des Nationalkomitees. 1945 kehrte er zusammen mit anderen kommunistischen Emigranten aus Rußland zurück und wurde in der sowjetischen Besatzungszone aktiv. Besonders scharf setzte er sich für die kompromißlose Durchsetzung des stalinistischen Kurses ein und bekämpfte alle, die in ihrer Einstellung zur Sowjetunion noch „irgendwelche Schwankungen“ oder „Unklarheiten“ zeigten.
Ab Anfang 1952 kritisierte Herrnstadt jedoch zunehmend auch negative Erscheinungen in der DDR — manchmal in einer recht offenen Sprache. In der Parteizeitung 'Neues Deutschland‘ stellte er Anfang Januar 1952 fest: „Zahllos sind die Fälle, in denen die Initiative der Massen erstickt oder blockiert wird. Zahlreich sind die Fälle, in denen anmaßende Partei- oder Staatsfunktionäre mit dem Mittel des Kommandierens oder Einschüchterns ,ihre‘ Linie durchsetzen, welche weder die Linie unserer Partei noch die des Staates ist.“ Herrnstadt appellierte an „die Massen“, solche Mißstände unzweideutig beim Namen zu nennen und anzuprangern.
Bei solchen Initiativen ging es Herrnstadt allerdings niemals darum, das kommunistische System oder seine Ideologie in Frage zu stellen. Die angeblich „parteifeindliche Plattform“, die schließlich zum Sturz Herrnstadts führte, stellte den „nahezu verzweifelten Versuch dar, eine autoritäre Herrschaftskonzeption demokratischer zu gestalten, der Führung Legitimität und Akzeptanz zu verschaffen, damit eben die Arbeiterklasse zu ihrer historischen Mission kommen könnte“.
Helmut Müller-Enbergs hat eine Biografie vorgelegt, wie sie sein soll: Er bringt jenes Maß an Einfühlungsvermögen und Sympathie auf, ohne das historisches Verstehen unmöglich ist, bewahrt aber zugleich eine Distanz, die unabdingbare Voraussetzung ist einer um Objektivität bemühten Geschichtsschreibung. An einigen wenigen Stellen werden die politischen Ansichten des Autors deutlich, der Pressesprecher der Fraktion Bündnis 90 im brandenburgischen Landtag ist. Natürlich kann man darüber streiten, wenn er schreibt, die kommunistische Bewegung sei „durch Josef Stalin dogmatisch-repressiv verkümmert“. Ist der dogmatisch-repressive Charakter aber nicht überhaupt für den Kommunismus kennzeichnend? Der Autor meint, viele Kommunisten hätten schließlich die „Diskreditierung einer der faszinierendsten Ideen (befördert), die bisher menschlicher Verstand hervorgebracht hatte“.
Einwände, die gegen solche Formulierungen geltend gemacht werden könnten, bleiben jedoch marginal gegenüber dem Verdienst des Autors. Sein Buch ist insofern vorbildlich, als es eine kritische Beschreibung kommunistischer Herrschaftspraxis gibt, jenseits der — hierzulande in den 70er und 80er Jahren verbreiteten — Beschönigung der kommunistischen Diktatur. Aber auch jenseits der — in den 50er Jahren üblichen und jetzt leider wieder in Mode kommenden — volkspädagogischen Anklagehaltung und Schwarzweißmalerei. Rainer Zitelmann
Helmut Müller-Enbergs, Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni , Linksdruck- Verlag, Berlin 1991, 400 Seiten, 24,80 D-Mark.
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