Rotzlöffel-Tourismus

■ Die Toten Hosen exhuminieren ihre Vergangenheit

Hätten sie gewußt, daß ihre Songs einmal zu „Klassikern“ reifen würden, die wilden Burschen der wüsten Punkjahre hätten vermutlich anstelle der berühmten drei Akkorde lieber gleich einen ordentlichen Beruf gelernt. So aber müssen die einstigen Apologeten der inexistenten Zukunft und Zweitverwerter der Townshend-Devise „Hope I die, before I get old“ zerknirscht mitansehen wie die vielgeschmähten „langweiligen alten Fürze“ Recht behalten mit ihrer altväterlichen Prophezeiung: „Wartet Ihr erst mal, bis ihr dreißig seid.“

Während die Rolling Stones ungerührt ihr fünfzigjähriges Bandjubiläum ansteuern und zumindest Keith Richards immer noch mühelos in der Lage ist, jeden Mitdreißiger durch seinen bloßen Anblick zu Tode zu erschrecken, ist bei den Rotzlöffeln der späten Siebziger eine gewisse Respektabilität eingekehrt, auch wenn Leute wie Johnny „Rotten but not forgotten“ Lydon oder Jello Biafra emsig bemüht sind, die alten Untugenden hochzuhalten. Und „Die Toten Hosen“ natürlich, die die Zeit zwischen den Fußball- Weltmeisterschaften weiterhin mit knallharter Musik überbrücken und ihren Zorn über die Heim-Niederlagen von Fortuna Düsseldorf in furiose Rhythmen transformieren.

Seit 1982, als die Schieber-Weltmeisterschaft von Spanien und der fünfzehnte Platz Fortunas in der Bundesliga geradezu nach Sublimierung durch den Punk-Rock schrien, toben die Hosen über die Bühnen des Landes. Nun kehren sie zurück zu den Wurzeln ihrer Karriere. Mit den Idolen von einst spielten sie jene Songs ein, die der 'Spiegel‘ schamlos als „Punk-Klassiker“ bezeichnet. Da tauchen Figuren auf wie Joey Ramone, Matt Dangerfield von den Boys, Knox von den Vibrators, Nick Cash von 999, Wreckless Eric oder der kurz nach der Neueinspielung seines „Born To Lose“ verstorbene Johnny Thunders, den Hosen-Sänger Campino unzählige Male mit der Zeile „Solange Johnny Thunders lebt, bleibe ich ein Punk“ gewürdigt hatte.

„Learning English — Lesson 1“ heißt sinnigerweise die erste Platte der Toten Hosen, die komplett in englischer Sprache daherkommt, „ein schneller Anfängerkurs für Urlauber, Geschäftsleute, Rock'n Roll-Fans und Perverse“, wie es zum Auftakt heißt. In schneller Folge jagen sich etliche der wunderbarsten Stücke der Punkjahre, „die wir uns über viele Jahre im Tourbus und unmittelbar vor Auftritten wieder und wieder reingezogen haben“: „Brickfield Nights“, „Baby, Baby“, „Gary Gilmore's Eyes“, „Do You Remember“, „Whole Wide World“, „Love And A Molotov Cocktail“, „If The Kids Are United“, lange verschüttete Ohrwürmer einer begrabenen Zeit, exhumiert von alegren Tempeldienern im Sakrosanktum des Punk, dargebracht von den Original-Ikonen daselbst.

Und als Zugabe Ronald Biggs, der räuberische Brite, der die Post 1963 um schlappe 30 Millionen Pfund erleichterte und jetzt in Rio de Janeiro ein offensichtlich behagliches Dasein fristet — der fleischgewordene Traum all jener verhinderten Supergangster, deren kriminelle Energie dummerweise schon mit dem Schwarzfahren erschöpft ist. Nach seinem Auftritt im „Great Rock'n Roll Swindle“ der Sex Pistols 1978 mußten „die Grenzen des schlechten Geschmacks neu definiert werden“, vermerkt das Begleitheft zu „Learning English“. Er ist der Protagonist des einzigen neuen Songs auf der gesamten Platte: „Carnival in Rio (Punk Was)“. Mit einer Stimme wie aus der Rocky Horror Show entsprungen, singt Biggs einprägsame Sätze wie: „We never took shit from no one, we just didn't give a fuck“. Learning English eben. Dreiundsechzig ist der gute Mann inzwischen. Von wegen: No future.

Matti Lieske

Die Toten Hosen:

Learning English

— Lesson 1. Virgin, CD 262310