: Jenseits von Gut und Böse
■ Der französische Autor Serge Julien Doubrovsky, Erfinder der Auto-Fiktion
Ich habe geglaubt, daß er körperlos sei, weder Fleisch noch Stimme habe. Seit wann ist ein Lehrer tatsächlich jemand aus Haut und Haar? Außerdem besitzt er einen Namen, wie der Rest seiner Kollegen, die man sich Seite um Seite, Wort für Wort reinzieht. Man kauft sie, man läßt sich ihre Bücher jeden Herbst neu andrehen; sie begleiten uns die liebe lange Schullaufbahn über, das Gewicht ihres Wissens zerrt an unseren Muskeln und vernebelt das Gehirn: so sehr, daß man vergißt, daß sie auch Menschen und Persönlichkeiten sind, mehr als ein Name: Lagarde und Michard, über denen wir in den Französisch-Stunden vor dem Abitur brüteten, tragen sie einen Bart oder Schnäuzer? Und hat Jules Isaac, den wir seitenlang in Geschichte und Geografie gebüffelt haben, eine andere Geschichte als die, deren Ereignisse er uns schildert, gar eine eigene? Und Doubrovsky? Für mich waren das bis dahin KhÛgne und HypokhÛgne (Klassen zur Vorbereitung auf die Eliteschule, die E.N.S.), sich endlos wiederholenden Klausuren, die großen Pariser Schulen, die direkt an die Spitze aller Hierarchien in Frankreich führen: Doubrovsky war bis zu dieser einen Oktoberwoche in München (wo er sich zu einer Lesung aufhielt, Anm. d. Red.) der Spezialist französischer Literatur, ein Mann ohne Gesicht, der einem Corneille erklärte, Proust vorlas, der Racine noch klarer machte als der klassischste seiner Texte. Doubrovsky war die Kritik im allgemeinen und Sartre im besonderen, er machte den Existentialismus faßbar. Ich hatte seinen Corneille ou la dialectique du héros (Corneille oder die Dialektik des Helden) gelesen, eine Art Bibel für jeden Literaturstudenten. Doubrovsky, ein bloßer Name, der nach Gedrucktem roch, nach muffigen Bibliotheken; Serge Julien Doubrovsky, ein Name, den er bei jedem Telefonanruf wiederholen und buchstabieren muß: D wie Dora, O wie Oscar... Vor mehr als einem halben Jahrhundert in Paris geboren, der Vater ein russisch-jüdischer Kommunist, der die französische Staatsbürgerschaft annimmt, die Mutter ebenfalls Jüdin und halb polnischer, halb elsässischer Herkunft; ein Franzose wie Asterix, mit einem Namen zum Draußenschlafen, wie Finkielkraut, Glucksman, Kahn... wie fast ganz Frankreich.
Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1968 stürzt sich Doubrovsky, der brillante Lehrer, renommierte Anglist, Chefkritiker, der ebenso in Paris wie in Amerika tätig ist, in ein Abenteuer, das ihn mit seinem tiefsten Inneren bekannt machen soll, die Psychoanalyse. Er widmet sich ihr und liest noch einmal die Briefe an Fleiss, in denen Freud 1897 schreibt: „Mein lieber Freund, seitdem ich das Unbewußte entdeckt habe, finde ich mich sehr interessant.“ Doubrovsky begründet einen Stil, der von ihm reden macht: die Auto-Fiktion. Obwohl seine Verlage seine Bücher unter dem Begriff Roman einreihen, entscheidet er sich, in seinen Büchern nur von sich selbst zu reden („Das ist nicht das Thema, das ich am besten kenne, aber gewiß das, was ich am wenigsten schlecht kenne“), von sich und denen, die ihm nahe stehen, seinen Töchtern, seinen Freunden, und vor allem den Frauen, diejenigen, die er liebt und begehrt, und diejenigen, die er heiratet und mit denen er lebt. La dispersion (Die Zerstreuung, 1969) ist das erste in der Reihe seiner Werke, die dieses neue Genre ankündigen. Es folgen Fils (Sohn, 1977), Un amour de soi (Eine Liebe von sich, 1985) und schließlich Le livre brisé (Das zerbrochene Buch, 1989), woraus er während seiner Reise in Deutschland vorgetragen hat. Ein atemloses Buch, das Seite um Seite nach Luft schnappt, einer dieser Texte, die man verschlingt, ohne aufhören zu können, und die man Kapitel um Kapitel aufnimmt und verdaut wie Wermut. Das zerbrochene Buch ist „Für Ilse, von Ilse, ihr Buch“; schon durch die Widmung führt der Autor sie ein. Doubrovsky erzählt die letzten Jahre mit seiner Frau Ilse, seiner Liebe und Geliebten, seit dreißig Jahren seine Helferin, seine erste Leserin, aber auch die Provokateurin, der Motor, der die Seiten wendet, indem andere geschrieben und noch einmal geschrieben werden, noch besser, noch weitergehend, die ihn vor die größte Herausforderung stellt, nämlich alles zu sagen, alles, die Lust, die Zärtlichkeit, aber auch der Schrecken des Täglichen, der Saufereien, der Abtreibungen, der Ersatzkinder und der nicht geborenen, der Abwesenheiten, der Reisen zwischen Paris und New York vom ersten Tag ihrer Liebe bis zu ihrem Verschwinden. In diesem letzten Kapitel bricht das Buch auseinander, wo die lebendige und leibhaftige Ilse die Liebesgeschichte und den Tod, selbst verschwindend, zu Ende erzählt: Sie schluckt Barbiturate und Wodka und läßt den Schriftsteller seinem Buch und sich selbst ausgeliefert zurück: „Nur dein Staub zerstreut sich dein Tod pfeift über meiner Asche mein Leben hing an deinem Faden alle meine zerrissenen Teile hast du aufgelesen in deiner Erinnerung deine Liebe die mich bereinigt ich bin ein Wrack mein inneres Gewebe zerfasert löst sich auf unversehens bin ich eliminiert.“ Sie setzt mit ihrem Tod die letzten Kommata, die dem Schlußwort folgen.
Es gibt Autoren, die sollte man lesen und nicht sprechen hören, und es gibt solche, die für den naiven Leser viel gefährlicher sind, die muß man sprechen hören, statt sie zu lesen. Doubrovsky gehört einer dritten Gattung an, die den Text liest und ihm etwas anderes eingibt, als der Leser gedacht und empfunden hat.
Doubrovsky liest seinen Text. Er liest ihn und dringt in ihn ein, jeder Satz offenbart immer weiter sich vortastend sein Inneres. Er hat eine Präsenz, die „jenseits“ von aller Schamhaftigkeit liegt; er sagt, was er ist, und liest, was er lebt. Er erzählt von Amerika und der Okkupation Frankreichs, von dem kleinen terrorisierten Serge Julien Doubrovsky, dem „Berle“ seiner jiddischen Mamme, der Angst vor denen hat, die bisher seine Landsleute waren. Das Buch beginnt mit einer Doppelfeier; am 8.Mai 1985 feiert Frankreich von den Champs Elysseés bis zur Concorde den gewonnen Krieg, und der Schriftsteller fragt sich, außerhalb dieser jubelnden Menge, außerhalb dieses Ortes stehend, wo er am 8.Mai 1945 gewesen ist, dem Tag des Sieges (der Allierten, d. Red.). Aber das Vergessen erfaßt ihn und treibt ihn einer anderen drolligen und schwerwiegenden Vergeßlichkeit entgegen, ebenso absurd wie seine Beschreibung des Alltäglichen: Er erinnert sich nicht mehr an die erste Frau, die er geliebt hat, die Namen geraten durcheinander, Liebe und Tod vermengen sich ohne Unterlaß. Doubrovsky ist ein Klassiker, er kennt die ewigen Themen und verfolgt sie, ohne jemals nachzulassen. Für einen Mann dieses Kalibers sind die Philosophen von höchster Wichtigkeit — sagte nicht seine Mutter: „Dein geistiger Vater ist Sartre.“ Selbst die, die er verabscheut, dienen ihm als Mentor. So Louis Ferdinand Céline, „den ich hasse (!)“, dem er aber einen Literaturansatz verdankt, bei dem nur die gefühlsmäßige Wiedergabe („le rendu émotif“) zählt. Es ist vielleicht diese kompromißlose Haltung, die ihn zu einem Autor macht, den die französische Kritik und die Leser nur lieben oder hassen können. Er läßt lauen Gefühlen, dem pseudointellekuellen und ästhetisierenden Hinundher, keinen Raum; das Reden von oben herab ist nicht sein Ding. Er lullt ein, betäubt, statt den Empfindungen nachzuspüren. Obwohl Doubrovsky in jeder Hinsicht ein reservierter Mann zu sein scheint, der gerne auf Distanz bleibt, erregt er die Gemüter dermaßen, daß man ihn frontal angreift. Bernard Pivot, das französische Pendant von Marcel Reich-Ranicki, lädt ihn in seine Sendung ApostrophesN ein, einem sehr pariserischen Literarischen Quartett ... Doubrovsky hat gerade das Livre brisé herausgebracht und den Prix Médicis 1989 erhalten, und so muß er sich seinen Richtern und der bohrenden Frage stellen, die ihn festnageln will, peinlich in ihrer übermäßigen Vulgarität, dem sensationsheischenden Alles- wissen-Wollen: „Glauben Sie nicht, für den Tod ihrer Frau verantwortlich zu sein?“ Das Erlebte, das sich offenbart, bleibt Bestrafung, die Zuschauer verwandeln sich in Richter; was das Leiden hätte erklären können, wird ein Theaterstück zur Verurteilung eines Mannes, der leidet, angeklagt vor sechs Millionen Fernsehzuschauern, für den Tod seiner Ilse verantwortlich zu sein. Doubrovsky stellt sich dieser Befragung und der Lesung mit der Gleichgültigkeit derer, die nichts mehr zu verlieren haben. Im Englischen Garten in München atmet er den Geruch der deutschen Erde ein, die Nähe zu Linz, der Heimatstadt seiner Ilse...
Dieser „Prof“, dieser „Allwissende“, spricht sehr oft davon, nichts zu wissen, nichts zu verstehen, in seinen hellen Augen blitzt ein Licht auf, keine Bitterkeit: „Warum ich schreibe wie ich schreibe, weiß ich nicht, ich kann nur Vermutungen anstellen. Ich habe niemals Tagebuch geführt, jeder Tag soll ohne Rest bleiben, warum dieses Vermischen der Stimmen, die Wortspiele, diese nicht vorhandene Interpunktion, man hat mir eines Tages gesagt, und es stimmt, daß mein Vater sich danach gedrängt hat, bei der Fremdenlegion den Krieg mitzumachen, um die Staatsbürgerschaft zu bekommen, ich schreibe auch, um zu diesem Frankreich zu gehören...“ Doubrovsky ist einer, der „dazwischen“ ist, zwischen Amerika und Frankreich, zwischen Joyce und Proust, zwischen dem Englischen und dem Französischen — seine Zweisprachigkeit drängt ihn manchmal dazu, ein Buch in zwei Sprachen zu schreiben, „aber ich würde weder einen Verleger noch Leser finden“ — zwischen sich und den anderen, zwischen Mann und Frau. Ein Mann, der seine Isolation zu handhaben weiß, eingeschlossen in seine Einsamkeit, weil er, wie der Schriftsteller Romain Gary schrieb, „zu sehr in der Vergangenheit verankert ist: wo die Männer niemals zu einer Verbindung mit den Frauen fähig waren.“ Er muß für den narzißtischen Verzicht einen sehr hohen Preis zahlen, den einer jedesmal noch jüngeren, noch brillanteren Liebe. Dieser Preis schreibt sich auf den Seiten ein, die er mit einem neuen Buch füllt, das den Titel L'après vie (Das Nachleben) tragen wird.
Das Buch bricht am Ende von mehr als vier Jahren gemeinsamen Lebens auseinander, am Ende von mehr als vierhundert Seiten; denjenigen, der „eine Frau durch ein Buch töten“ wollte, hat der Tod ereilt, mit einer teuflischen Perfektion in Szene gesetzt, das tragische klassische Ende der großen Romanfiguren, Helden, Märtyrer.
Die Lesung geht zu Ende, so wie unserer Spaziergang im Englischen Garten. Doubrovsky wischt sich die Stirn mit zittriger Hand ab, der Schriftsteller schickt sich an, aus dem Ring zu steigen, als er seine Lesweise von Hugo anbietet, so wie er Ilse in seinem eigenen Text seine Liebe zur Literatur gesteht: „Du hast Goethe, ich Hugo.“
Seine langen Hände mit spitzen Fingernägeln streichen über das Buch, die Manuskriptseiten, die ihn umgeben. Um seinem eigenen Text besser folgen zu können, bedient er sich jener überraschenden Geste, indem er die Worte Buchstabe um Buchstabe mit einem Zeigefinger unterstreicht, der an die Liebkosung, an das Pergament und das Blatt gewohnt ist, während er in französischer Sprache ein Gedicht von Victor Hugo vorliest. Serge Julien Doubrovsky, der mit den widersprüchlichen Vornamen, dem zersplitterten Schicksal, dem man nachsagt, er sei der einzige französische Schriftsteller aus der jüdischen New Yorker Schule. Doubrovsky sorgt dafür, daß die Literatur keine Hohlform, keine Pflichtveranstaltung ist; er füllt sie mit Sensation, macht daraus diesen Spiegel, worin man sich reflektiert, worin die Schwierigkeiten zu leben abheben, wo Sartre den Dialog mit Michel Leiris wieder aufnimmt. Mein „Prof“ von damals ist ausgesprochen lebendig.
Die Romane Doubrovskys sind bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Auf französisch sind erschienen:
—Corneille ou la dialectique du héros. Gallimard 1964.
—La dispersion. Mercure de France, 1969.
—Fils. Le Galilé, 1977.
—Un amour de soi. Hachette 1982.
—La vie l'instant. Balland 1985
—Le livre brisé, Grasset 1989.
(Aus dem Französischen von Sabine Seifert.)
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