: Niederlage für belgische Regierung
Sieger der Wahl wurden Rechtsradikale auf der einen und die belgischen Grünen auf der anderen Seite/ Ministerpräsident Martens reicht Rücktritt ein/ Anarcho-Millionär vom Knast ins Parlament ■ Aus Brüssel Michael Bullard
Die Rechtsradikalen werden „in Zukunft den etablierten Parteien ihre Politik diktieren“. Großspurig trotzte Filip Dewinter nach dem Wahlsieg (plus 8,4 Prozent) seiner Partei Sonntag nacht den Anfeindungen der TV-Interviewer. Der Vlaams Blok vertrete die Sache des Volkes, behauptete der Chefagitator und rechtskräftig verurteilte Schlagstockführer. Der Flämische Block werde die Einwanderung zum Hauptthema der belgischen Innenpolitik machen und „die Viererbande“ der bisherigen Koalitionsparteien aus der Opposition heraus unter Druck setzen. Denn das Volk, so Dewinter, wünsche „eine Heimkehr der Nichteuropäer“.
Daß diese nur ein Drittel der in Belgien lebenden 880.000 Ausländer ausmachen, zwei Drittel dagegen aus den EG-Staaten kommen, scheinen die Rechtsradikalen übersehen zu haben, bemerkte Magda Aelvoet von den flämischen Grünen. Ihre wallonische Schwesterpartei Ecolo ist die andere Siegerin der belgischen Wahlen vom letzten Sonntag. Die französischsprachigen Grünen konnten ihr Ergebnis von 1987 (6,5 Prozent) mehr als verdoppeln und stellen künftig zehn Abgeordnete. Die flämischen Grünen, Agalev, hingegen gewannen nur einen Sitz hinzu und verfügen nun über sieben VertreterInnen.
Ministerpräsident Martens als Verlierer
Wahlverlierer sind die großen Parteien, insbesondere die flämischen und wallonischen Christdemokraten und Sozialisten sowie die flämisch- nationalistische Volksunie, die zusammen die letzte Regierungskoalition gestellt haben. Christdemokraten und Sozialisten konnten zwar eine einfache Mehrheit im belgischen Parlament halten, mußten aber deutliche Stimmenverluste einstecken. Die Koalitionspartner erreichten zusammen nur noch 120 von insgesamt 212 Sitzen und verloren damit 14 Mandate. Dieses Wahlergebnis sei „extrem schlimm“, kommentierte der christdemokratische Ministerpräsident flämischer Abstammung, Wilfried Martens. Denn dadurch werde die Regierungsbildung erschwert. Außerdem könne die Staatsreform vielleicht nicht fortgesetzt werden, mit der Belgien aus einem Zentralstaat in einen Bundesstaat nach deutschem Vorbild umgewandelt werden soll. Denn für die dazu nötigen Beschlüsse sei eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich. Martens zog noch am Montag die Konsequenz aus der Niederlage und reichte erst einmal seinen Rücktritt ein.
Innenminister Louis Tobback verglich den Ausgang des Urnengangs dann auch mit den Wahlen von 1936. Damals gewann die faschistische Rex-Bewegung 21 Sitze. Seine CVP hat in der neuen Abgeordnetenkammer fünf Vertreter weniger, bleibt aber mit 38 Mandaten vor den wallonischen Sozialisten (PS) größte Gruppierung. Die PS verlor ihrerseits fünf Mandate und entsendet künftig nur noch 35 Abgeordnete. Die flämische Schwesterpartei der Genossen, die SP, rutschte von 32 Sitzen auf 28. Dafür gewannen die stramm rechtsgeführten flämischen Liberalen (PVV) 26 Sitze. Auch die weit rechts angesiedelten Liberalen im französischsprachigen Teil Belgiens (PRL) legten zu. Sie haben nun 20 Sitze. Ebenso die rechtsextreme Front National der Wallonie. Sie ist künftig mit einem Abgeordneten im Parlament vertreten.
„Anarchistischer Millionär“ gewinnt drei Sitze
Die Unzufriedenheit der rund sieben Millionen belgischen Wähler mit der Politik der Regierungskoalition verdeutlicht auch der Erfolg der anarchistischen Partei ROSSEM (Radikale Reformer, Kämpfer und Unruhestifter für eine gerechte Gesellschaft). Sie wird erstmals mit drei Vertretern in das belgische Parlament einziehen, obwohl ihr Vorsitzender Jean-Pierre Van Rossem wenige Tage vor der Wahl in Antwerpen wegen Wahlbetrugs und illegalen Finanztransfers verhaftet worden war. Van Rossem gilt als „anarchistischer Millionär“ und ist Besitzer eines Formel-eins-Rennstalls. Ihm gelang am Sonntag auf Anhieb der Durchbruch in der Politik. Durch einen achtprozentigen Erfolg in Flandern erhielt die Liste van Rossem drei Abgeordnetenmandate. Das angebliche Genie, das ein Computersystem zu (erfolgreicher) Börsenspekulation erfunden haben will, muß sich wegen dunkler Finanzgeschäfte vor der Justiz verantworten. Ein Mitbewerber auf der Liste van Rossem, der Brüsseler Surrealist Gerard Bucquoy, verzichtete angesichts des unerwarteten Erfolgs auf eine politische Karriere. Er will sich lieber weiter um sein weltweit einzigartiges Unterhosen-Museum kümmern.
Daß durch das Wahlergebnis die Staatsreform wirklich gefährdet ist, mit der Martens den flämisch-wallonischen Dauerkonflikt entschärfen möchte, steht allerdings noch nicht fest. Jedesmal wenn sich die belgische Regierung zusammensetzt, wachen die verfeindeten Koalitionspartner eifersüchtig darüber, daß keine Seite bevorzugt wird. Ergebnis dieses als „Sprachenstreit“ titulierten Hickhacks: immer seltener ist die belgische Regierung entscheidungsfähig, immer länger dauert das Ausmauscheln von Kompromissen, die zuweilen bizarre Formen annehmen.
Als Ausweg aus diesem Dilemma propagiert Martens seit etwa zehn Jahren die Aufteilung Belgiens in drei weitgehend unabhängige Regionen: das französisch sprechende Wallonien mit 3,2 Millionen Einwohner einschließlich eines autonomen Gebietes für die 65.000 deutschsprachigen Belgier, das niederländisch sprechende Flandern mit 5,6 Millionen und das zweisprachige Brüssel mit einer Million Einwohner. Die ersten beiden Stufen der Staatsreform wurden in den letzten Jahren durchgeführt. Verwirrendes und kostspieliges Resultat: sechs verschiedene Regierungen, sechzig Minister, neun Provinzgouverneure streiten sich um Kompetenzen und Steuermittel.
Über die weitere Ausgestaltung des neuen Staatsgebildes kamen sich die Koalitionspartner im September in die Haare. Der Streit führte zum Bruch der Regierungskoalition und zu den auf Sonntag vorgezogenen Neuwahlen. Die Volksunie und der Vlaams Blok, aber auch die meisten wallonischen Parteien propagieren eine Konföderation mit noch größerer Autonomie für die Regionen. Martens und andere befürchten dagegen, daß dies das Ende des belgischen Staates bedeuten könnte. Bereits jetzt sind Verkehrs-, Umwelt-, Raumordnungs-, Forschungs- und Bildungspolitik weitgehend Sache der Regionen. Unter ihrer Regie sollen in Zukunft auch Außenhandels- und Entwicklungspolitik abgewickelt werden.
Vor allem die Sozialpolitik soll nach Ansicht der flämischen Nationalisten und des Vlaams Blok auch Sache der Regionen werden. Denn die reicheren Flamen wollen nicht länger das „wallonische Armenhaus mitfinanzieren“. Der Sozialversicherungsetat macht mit 60 Milliarden DM den Löwenanteil des belgischen Haushalts aus, fünf Milliarden davon sind flämische Transferzahlungen für die Armen, Kranken und Arbeitslosen der südlichen Region. Dort ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im belgischen Durchschnitt. Im Mittelpunkt des politischen Streits steht das Sozialversicherungssystem, auch weil es zur enormen Verschuldung des belgischen Staates beiträgt. Folge: Etwa ein Drittel des Staatsbudgets dient allein der Zinsentilgung — ein Zustand, den die EG schon angemahnt hat. Die Finanzen müßten schnellstens in Ordnung gebracht werden, ansonsten könnte Belgien nicht an der geplanten Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmen.
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