: „Ich schäme mich nicht, Rassist zu sein“
In Prag wird heftig über den Umgang mit den Roma der Stadt gestritten/ Eine Demonstration von Skinheads traf auf eine Gegendemonstration von Anarchisten/ In der Tschechoslowakei leben seit Jahrhunderten rund 500.000 Roma ■ Aus Prag Sabine Herre
Den Passanten in der Prager Innenstadt wurde es an diesem Sonntag nachmittag nicht langweilig. Kurz nachdem eine Gruppe blutjunger Skinheads lautstark an ihnen vorbeigezogen war, folgte ein Demonstrationszug nahezu ebenso junger Anarchisten. Kaum 16 Jahre schienen die meisten zu sein, und doch zeigten sie sich bereits mit allen Attributen ihrer Bewegung geschmückt. In grünen Soldatenjacken, kurzgeschoren die einen, mit schwarzgefärbten Haaren, schwarzen Mänteln die anderen. Sorgfältig herausgeputzt wirkten sie alle, die Mädchen beider Gruppen hatten dick Schminke aufgelegt, neue Ohrringe, neue Perlen in der Nase, alles wurde beurteilt, bewundert. Die Aufmerksamkeit der Passanten konzentrierte sich jedoch auf eine Gruppe Roma, die gemeinsam mit den Anarchisten zu einer Kundgebung zum Wenzelsplatz gekommen war — sie waren der eigentliche Anlaß der beiden Aufmärsche.
14 Uhr auf der Prager Letna, Schauplatz unzähliger kommunistischer und antikommunistischer Demonstrationen. Hoch über der Moldau stehen sie sich gegenüber: 500 Anarchisten auf der einen, 500 Skinheads auf der anderen Seite. Die „Kahlköpfe“ wollen gegen die — ihrer Ansicht nach — ständig zunehmende Kriminalität der Prager „Zigeuner“ protestieren, die „Anarchos“ wollen diese „rassistische“ Kundgebung verhindern. Da eine mindestens ebensogroße Anzahl von Polizisten zwischen beiden Gruppen jedoch eine trennende Barriere bildet, kommt es nicht zur erwarteten „Schlacht“. Diese tobt sich statt dessen in einem Wettkampf der Parolen aus: „Faschisten raus“ gegen „Böhmen gehört den Tschechen“ und „Die Roma bleiben“ gegen „Vergast die Zigeuner“. Mit vermummten Gesichtern die einen, die Arme zum Hitlergruß erhoben, die anderen. Haß und Wut werden laut, doch vielen scheint die ganze Angelegenheit auch Spaß zu machen. Ein Siebzehnjähriger: „Überall Skins, toll!“
Als die Lust an den Parolen schließlich sinkt und sich Langeweile breitmacht, beschließen die Skins, gegen die verhaßten „Schwarzen“ — der Prager Slang für Roma—, gegen Schwarzwechsler und Vietnamesen ins Feld zu ziehen. Da diese die Innenstadt heute jedoch vorsorglich meiden, wählt sich die kleiner werdende Gruppe unter Bewachung der Polizei ein neues Ziel: Das „Zigeunerghetto“ Zizkov. In diesem in der Zeit der Industrialisierung Prags mit den billigsten Mitteln errichteten Arbeiterviertel leben heute die meisten Roma der Hauptstadt, hier entstehen die wildesten Gerüchte über ihre Lebensweise: Die Parkettfußböden würden verfeuert, die ganze Nacht hindurch spiele laute Musik, vor Überfällen sei frau, aber auch mann selbst am „hellichten Tag“ nicht sicher. Kein Wunder also, daß die wenigen „weißen“ Bewohner des heruntergekommenen Stadtteils die Skinheads mit Beifall begrüßen: „Endlich räumt hier jemand auf, vertreibt das Gesindel“.
Ganz so weit ist es freilich noch nicht; auch die Roma haben sich organisiert. Verschiedene Initiativen vertreten ihre Interessen, im Parlament haben sie ihre Abgeordneten. Auch an diesem Nachmittag sprechen ihre Vertreter am Wenzelsplatz bei der Kundgebung der Anarchisten. 600.000 Roma leben in der Tschechoslowakei seit Jahrhunderten, doch nun wollen die Tschechen sie aussiedeln, da sie keine Slawen seien. Sie verlören zuerst ihren Arbeitsplatz, ihre Wohnung, sie hätten im Gegensatz zu anderen Minderheiten keine Schulen, in denen in ihrer Sprache unterrichtet werden darf. Doch bei solchen Argumenten schütteln die Prager nur den Kopf. „Anarchisten, Kommunisten und Zigeuner zersetzen gemeinsam jeden Staat.“ Aber auch: Wie können sich „unsere Jungs“ — das heißt die tschechischen Anarchisten — nur dazu hergeben, für „die Schwarzen“ zu demonstrieren. Am unteren Ende des Wenzelsplatzes ist eine der typischen Prager Straßendiskussionen entstanden. Eine Journalistin des tschechoslowakischen Rundfunks interviewt einen der „Kahlköpfe“, Passanten bleiben stehen, mischen sich ein. Immer wiederkehrendes Argument: Die „Zigeuner“ stehlen, alle! Der Versuch der Journalistin, nach den Ursachen dieser Kriminalität zu fragen, stößt nicht nur auf fehlendes Verständnis, sondern auch auf empörte Gegenreaktion. „Die wird ihre Meinung schon ändern, sobald sie einmal bestohlen wurde.“ Der Skin fühlt sich bestätigt. Geschickt argumentiert er: „So denken hier alle, nur, die meisten haben nicht soviel Mut wie wir, ich schäme mich nicht, ein Rassist zu sein.“ Die Position der Journalistin wird allein von zwei fünfzehnjährigen Mädchen unterstützt, sie wurden von Skins überfallen, weil „wir wie Anarchos aussehen“. Ihre Meinung: „Die Menschen dürfen nicht danach beurteilt werden, ob einer schwarz oder weiß ist, sondern ob er stiehlt...“ Später wollen die beiden Sozialwissenschaften und Jura studieren, es sind die Töchter von zwei „linken“ Parlamentsabgeordneten.
Unterdessen haben die mit Schlagstöcken ausgerüsteten Polizisten vor dem Denkmal des heiligen Wenzel, am oberen Ende des Wenzelsplatzes, einen Kordon gebildet. Die Anarchisten, so scheint es, sollen zu Füßen des böhmischen Nationalheiligen nicht für die Roma demonstrieren dürfen: „Das wäre Entweihung.“ Immer wieder fordert ein Polizist die „Vermummten“ auf, die vor das Gesicht gebundenen Tücher abzunehmen, greift schließlich selbst zu. Die Demonstranten reagieren gereizt, fragen nach den Kennnummern, die die Polizisten seit der „samtenen Revolution“ tragen müssen. Denn diese sind heute nicht zu sehen. Allen ist klar: „Die Bullen haben es auf uns abgesehen“, „die andere Seite lassen sie in Ruhe“.
Als die Polizisten den Weg schließlich doch freigeben, reagieren die meisten überrascht, verunsichert. Damit haben sie nicht gerechnet. Es dauert einige Zeit, bis sie sich zur Abhaltung ihrer Kundgebung entschließen können. Dann jedoch hören die meisten gespannt den Rednern zu, denn „das bringen die nicht im Fernsehen“. Ein Vertreter einer anarchistischen Zeitung, der nicht fotografiert werden möchte, prangert das „Unrecht in der ganzen Welt“, Golf- und Jugoslawienkrieg, Hunger und Armut in der Dritten Welt an. Von der Kritik ausgenommen ist auch die tschechoslowakische Regierung nicht, Bürokraten seien durch Bürokraten ersetzt worden. Nur der Staatspräsident genießt selbst unter den Anarchisten hohes Ansehen, ihn lassen sie „hochleben“: At zije Havel.
Die Skinheads haben für den ehemaligen Oppositionellen dagegen weniger übrig. Als Verteidiger der Menschenrechte gilt er vielen als „zu schwach“, seine proföderalistische Politik beantworten sie mit dem ersten, der tschechischen Republik gewidmeten Teil der tschechoslowakischen Nationalhyme.
Kurz vor 17 Uhr haben die Polizisten es geschafft. Beide Demonstrationen lösen sich auf, zu ernsthaften Zusammenstößen kam es nicht, gezählt werden konnten ganze 14 vorübergehende Festnahmen. Kurzzeitige Gerüchte, daß man sich an diesem oder jenem Platz der Hauptstadt „wiedersehen“ werde, verlieren sich schnell. Nach drei Stunden im naßkalten Prager Herbst ziehen sich Anarchos, Skins und Roma in ihre Stammkneipen zurück.
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