Gorbatschows Hängepartie

Die USS gibt's noch nicht, die UdSSR nicht mehr/ Trotz des Scheiterns der Verhandlungen im Staatsrat glaubt Gorbatschow noch an ein Geburtsdatum für die neue Union vor Weihnachten  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Ganz allein hielt Präsident Gorbatschow am Montag abend vor den Journalisten das Unionsfähnchen hoch, und ganz offensichtlich hatte er sich noch nicht erholt von den Stürmen, die hinter den geschlossenen Saaltüren in Nowo-Ogarjowo bei Moskau getobt haben müssen. Auch die sieben von den ursprünglich zwölf einer Unterzeichnung nicht abgeneigten Republikchefs, die am Montag erschienen waren, hatten sich nicht auf eine Unterzeichnung des angekündigten neuen Unionsvertrages einigen können. Ein Projekt, das übrigens in seiner aktuellen Gestalt noch nirgends veröffentlicht wurde. Zu viele „Einzeleinwände“ brachten die Republikvertreter der Auskunft des Präsidenten zufolge vor, und deshalb sollen die Paragraphen in ihrer Gesamtheit erst einmal den Republikparlamenten zur Diskussion und Ratifizierung vorgelegt werden.

Daß die Widersprüche im Laufe einer solchen unbegrenzten schöpferischen Vervollkommnung nicht gerade abnehmen werden, liegt auf der Hand. Und so verließen die Unterhändler das Nowo-Ogarjower Landgut mit ernsten Mienen. Am zufriedensten blickte noch Boris Jelzin drein, dessen Republik — mit und ohne Unionsvertrag — ohnehin stark genug ist, um über ihre Nachbarn zu dominieren. Gerade dieser Faktor aber ist geeignet, die Unionsfreudigkeit der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken abzuschwächen.

Was nun die „Völker“ im eigentlichen Sinne angeht, die „kleinen Leute“ auf den Straßen der ehemaligen Sowjethauptstädte, so wies Gorbatschow erst kürzlich in einem Interview darauf hin, daß diese — Meinungsumfragen zufolge — heute einer Union viel positiver gegenüberstehen als noch während des von ihm selbst im Mai dieses Jahres zu dieser Frage inszenierten unionsweiten Referendums. Das Vertrauen darauf, es könnte sich ein nicht „hierarchisierendes“, sondern demokratisch koordinierendes Zentrum herausbilden, ist in der Nach-Putschzeit offenbar gewachsen. Und so ließ der Präsident in seiner montagabendlichen Einmannshow auch den Mut nicht sinken. Mit dem Verweis, daß die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion weitere Unsicherheit über ihre staatliche Zukunft nicht zu ertragen vermögen, verlieh er der Hoffnung Ausdruck, das Unionsvertragswerk sogar noch vor dem 20. Dezember zu unterzeichnen.

Und dies sind die groben Richtlinien für den neuen Staat, auf die man sich immerhin schon geeinigt zu haben scheint: Mit dem Beschluß zur Schaffung eines „ganzheitlichen konföderativen Staates, der eine Staatenunion darstellt“, hat man glücklich die Frage umschifft, wer zuerst da war, das Ei oder die Henne. Der neue Staat soll eine Präsidialverfassung behalten, und dem Präsidenten obliegt auch der Oberbefehl über die Streitkräfte, die im Prinzip gemeinsame bleiben sollen. Die Wahl des Präsidenten soll „das Volk“ zustande bringen, auf Wegen, die ein noch nicht existierendes Gesetz definieren muß. Einen Vizepräsidenten soll es auch geben, hingegen wohl keinen „Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Union“ mehr, da dieses Parlament insgesamt seine Bedeutung verliert. Gestärkt werden soll hingegen der „Staatsrat“ — eben jenes Organ, das in Nowo-Ogarjowo tagte und in dem die Republiken über einen gleichen Stimmenanteil verfügen. Die Mehrzahl der Teilnehmer war dort übrigens eher für eine gemeinsame zukünftige Währung, ohne daß man diesem Punkt die Kraft einer Vorschrift verleihen wollte.

Und nun ist die Reihe also an den Republikparlamenten. Diese könnten dem Nowo-Ogarjower Prozeß endlich konstitutionelle Kraft verleihen, ist doch nicht einmal der inzwischen beschlossene und von der Presse bereits benutzte Name des angestrebten Staates USS (Union Souveräner Staaten) bisher von irgendeinem Gesetzgeber abgesegnet. Die Unterhändler von Nowo-Ogarjowo haben zuerst einmal Zeit gewonnen und den Frieden gewahrt. So gesehen ist schon als Erfolg zu buchen, was die 'Nesawisimaja Gaseta‘ über die Nowo-Ogarjower Unionsverhandlungen unkte: Genützt haben sie bis jetzt noch nicht, aber geschadet haben sie auch niemandem.