: Schäubles Mißverständnis
Stuttgart/Bonn (afp) — In der Bonner Koalition sind gestern erneut die unterschiedlichen Standpunkte in der Asylrechtsdiskussion deutlich geworden. Ausgelöst wurde die Kontroverse durch ein Interview des neuen CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble mit der 'Stuttgarter Zeitung‘. Die Koalition habe sich in der vergangenen Woche darauf verständigt, Asylbewerber, die aus sicheren Drittstaaten einreisen, zurückzuschicken, sagte der CDU-Politiker. Dem widersprach der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Burkhard Hirsch. Hier liege offensichtlich ein „Mißverständnis“ vor. Schäuble sagte, die Koalition habe vergangene Woche „völlige Übereinstimmung“ erzielt, die jetzt anstehende Ratifizierung des Schengener Vertrages und eines Zusatzabkommens zu beschleunigen. Dem Zusatzabkommen zufolge können Asylbewerber, die bereits in einem anderen, politisch sicheren Land Aufnahme gefunden haben, zurückgeschickt werden. Damit hat ein Asylbewerber, der beispielsweise erst nach Frankreich und dann nach Deutschland kommt, Schäubles Ansicht zufolge keinen Anspruch mehr auf ein Asylverfahren in der Bundesrepublik. Zur Zurückweisung eines Asylbewerbers reiche aus, „wenn er einen bestimmten Gebietskontakt in dem anderen Land hatte“, sagte Schäuble. Theoretisch könnten seiner Einschätzung nach damit die allermeisten Asylbewerber zurückgewiesen werden. „Denn wer immer auf dem Landweg zu uns kommt, hat ein anderes Land vorher schon berührt.“ Nur zwei Prozent der Asylbewerber kommen nach Angaben des früheren Bundesinnenministers auf dem Luftweg. Hirsch dementierte in Bonn, daß die Koalition sich auf eine solche Regelung geeinigt habe. Die FDP habe keineswegs entgegen der Verfassung auf das Asylrecht derjenigen politischen Flüchtlinge verzichtet, die nicht auf dem Luftwege in die Bundesrepublik einreisen. „Da wir von Demokratien geradezu umzingelt sind, hätte eine solche Verständigung zur Folge, daß bis zu 90 Prozent der Asylbewerber unseren europäischen Nachbarländern zugeschoben werden müßten, und zwar unabhängig davon, ob diese den Flüchtlingen ein minimales Asylverfahren gewähren oder nicht. Das wäre geradezu bauernschlau und kann ja wohl nicht ernst gemeint sein.“ Hirsch betonte zugleich, daß die FDP keiner Verfassungsänderung im Asylrecht zustimmen werde, die Schäuble immer wieder fordert, und daß die europäischen Asylrechte noch sehr verschieden seien. Die Koalition habe vereinbart, ein gemeinsames europäische Asylrecht anzustreben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen