: Solo für Elisabeth
Lars Norens „Rachearie“ in Darmstadt erstaufgeführt ■ Von Jürgen Berger
Elisabeth ist Josephs Frau, seit 23 Jahren. Joseph ist Psychotherapeut und alles in allem ein beherrschter Mann. Aber dann erlebt Joseph sein homoerotisches Coming-out, und zwar ausgerechnend während Mozarts Don Giovanni — der Verführer drückt auf der Bühne gerade die Hand des steinernen Gasts und zieht endgültig in den Olymp der Nihilisten ein, während Joseph die Liebe von Mann zu Mann entdeckt, in einer Loge versteht sich. Sein Verhältnis könnte verborgen bleiben, aber der Logenpartner hinterläßt auf Josephs Anrufbeantworter eine Liebesbotschaft, und Elisabeth hört sie zufällig ab.
Wieder eine von Lars Norens Zimmerschlachten, denkt man, in der die Fetzen fliegen und die Protagonisten ihre psychologische Befindlichkeit auf der Zungenspitze spazieren tragen. Aber es kommt anders. Elisabeth, die nackt auf den heimkehrenden Joseph wartet, ist gleichzeitig gekränkt und erotisiert. Zum ersten Mal befindet sie sich in einer Situation, in der sie sich ihrem Ehemann überlegen fühlt, und doch provoziert sie den Gatten nicht, sondern tastet sich an ihn heran.
Rachearie heißt das neueste Stück des Schweden Lars Noren, dessen deutsche Erstaufführung in Darmstadt über die Bühne ging — und auf der ist wider aller Erwartung auch keine jener weitläufigen und teuer anmutenden Innendekorationen zu sehen, die Bühnenbildner für zeitgenössische Stücke aus dem Milieu des gehobenen Mittelstandes derzeit für gewöhnlich bauen. Eva Giersiepen konzipierte einen kalten Raum für die Werkstattbühne. Der von Lars Noren vorgesehene Mies-van-der- Rohe-Stuhl steht zwar an seinem Platz, das Wohnzimmer des Ehepaares ist aber mit Stahlplatten eingefaßt und insgesamt karg eingerichtet — oben zwei Bullaugen, als befinde man sich im Innern eines Schiffes. Ein Interieur, das die psychorealistische Noren-Atmosphäre wohltuend verfremdet, was auch durch atonale Klänge zu Beginn der Inszenierung verstärkt wird. Monika Dortschy ist die Elisabeth und stellt die Lehne ihres Ledersessels als Schild zwischen sich und den Zuschauerraum. Dann beginnt sie zu sprechen. Sie sinniert einzelnen Wörtern nach, spielt allmähliche Stimmungsumschwünge, läßt hie und da ein Wort fallen, den Ehegatten aus der Reserve zu locken, und sollte sie sich kurz vergessen, fällt sie sofort wieder in einen kalten, schneidenden Ton zurück oder träumt eine ihrer erotischen Phantasien.
Daß in Darmstadt keine jener Inszenierungen zu sehen ist, die Lars Norens Oberflächenpsychologie nur nachvollzieht, hat Hansjörg Betschart zuwege gebracht, ein junger Regisseur, der bisher in Zürich inszenierte und der Lars Norens Rachearie auch übersetzte.
Vielleicht war es die Konzentration auf den Text, die dafür verantwortlich ist, daß der Regisseur mit der fast stummen Figur des Joseph weniger anzufangen wußte. Klaus Ziemann spielt ihn und müht sich, „völlig gleichgültig“ zu wirken, wie Lars Noren es vorschreibt. Betscharts Inszenierung allerdings wird dadurch schieflastig und teilweise zu einem Solo für Elisabeth. Gleichgültigkeit zu spielen ist das eine, stur in eine Richtung zu blicken das andere. Weniger überzeugend auch der Versuch des Regisseurs, die Hintergrundgeschichte der Rachearie in stilisierten Bildern auf die Bühne zu bringen. Elisabeth spielt ihrem Gatten die Liebesbotschaft auf dem Anrufbeantworter vor, dazu erscheint Josephs Logenpartner in einer Art Traumsequenz wie ein Jüngling aus Fassbinders Querelle. Ein inszeniertes Ausweichmanöver, damit nicht gespielt werden muß, was sich zwischen Elisabeth und Joseph abspielt, während die Stimme von Josephs neuer Liebe zu hören ist.
Trotzdem. Hansjörg Betschart zeigt in Darmstadt, wie man Lars Noren beikommen kann und daß Schwedens „Strindberg im Aufgußbeutel“ nicht nur „Boulevard-Zimmerschlachten“ nach Deutschland exportiert. Das wurde Mitte der 80er Jahre und nach Stücken wie Dämonen und Nachtwache geschrieben, obwohl sich Noren anders als etwa der Engländer Alan Aykbourn keineswegs damit begnügt, routiniert die Boulevardmaschine schnurren zu lassen. Im Gegenteil. Er will eher zuviel. Seine Ärzte, Fernsehredakteurinnen, Schriftsteller und Abteilungsleiterinnen auf glattem Schickeria-Parkett oder im häuslichen Catch as Catch Can sind psychologisch so hochgerüstet, daß sie lediglich strategische Nullsummenspiele zuwege bringen. Ihre Auseinandersetzungen haben die Gefährlichkeit eines Boxkampfes, bei dem sich die Gegner die Wucht ihrer Schläge zuvor in Kilopond zurufen. Lars Noren bemerkte wohl selbst, daß er in einer Sackgasse gelandet war, und verließ vor drei Jahren das Terrain einfach gestrickter Paardoppel. Mit Eintagswesen gelang ihm ein auch sprachlich reizvolleres Stück, jetzt hat er mit der Rachearie ein intimes Kammerspiel geschrieben. Allerdings eines, bei dem noch zu erforschen wäre, was aus Joseph werden kann.
In Darmstadt darf man gespannt sein, wie es unter dem neuem Schauspielchef weitergeht — und auch darauf, was der dortige Oberbürgermeister zur nackten Elisabeth sagt, sollte er den Weg in die Werkstattbühne finden. Als ihm der letzte Schauspielchef suspekt wurde und er plötzlich einen neuen wollte, hatte seine Unzufriedenheit unter anderem mit Nacktheit auf der Bühne zu tun. Damals spielte und inszenierte Lore Stefanek Gerlind Rheinshagens Tanz Marie. Der Oberbürgermeister fand das skandalös.
Lars Noren: Rachearie. Übersetzung und Regie: Hansjörg Betschart. Bühne und Kostüme: Eva Giersiepen. Mit Monika Dortschy, Klaus Ziemann. Staatstheater Darmstadt.
Weitere Aufführungen: 30.11., 12. und 14.12.
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