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Neues Steckenpferd: Asylproblem-betr.: "Nicht mehr ganz allein unter Deutschen" von Jeanette Goddar, taz vom 11.11.91

betr.: „Nicht mehr ganz allein unter Deutschen“ von Jeanette Goddar, taz vom 11.11.91

[...] Es war die Zeit des Mauerdurchbruchs. Alles wurde durch dieses „Loch“ gesehen, und das deutsche Volk kam zu neuer Ehre und Macht, wurde zum Aushängeschild für Menschenrecht, für Einfluß von Kirche und zum Beispiel für viele Völker (denen es heute schlechter ergeht, als in sozialistischen Zeiten!). [...] Damals, vor zwei Jahren, wurde sinngemäß gesagt: Wir Deutsche haben aus der Vergangenheit gelernt, und für uns ist eine neue Zeit angebrochen. Wir wollen das Vergangene vergessen und uns auf die Zukunft hin orientieren.

Mit diesem Verhalten und mit dieser Euphorie hat man uns in Deutschland lebende Juden eigentlich verhöhnt. Die Täter erklärten damit gleichsam vielmillionenfach, daß die vergangenen Greueltaten sie nichts angingen; es sei Sache der Opfer, damit fertigzuwerden. Uns wurde vielfach die Hand dafür gereicht, daß wir dies bestätigen.

Die Euphorie ist vergangen, die Mauer ist voll eingestürzt zwischen Ost und West. Denn Sektflaschen und Kerzen von gestern wichen Steinen und dem gestreckten Armgruß von heute! Jetzt haben Politik, Wirtschaft und Kirche ein neues Steckenpferd: Asylproblem!

Wieder wird uns die Hand gereicht und wieder werden wir mißbraucht. Ebenso, wie wir vor zwei Jahren zum bedauernswerten Vergangenheitsobjekt gemacht und als erschreckendes Beispiel erwähnt wurden, aus dem man „gelernt“ habe, wird heute dasselbe wiederholt, nur hängt man an uns jetzt das Asylproblem auf. Eigentlich sind dabei weder unsere sechs Millionen Ermordeten noch die inzwischen verstorbenen oder noch lebenden, in deutschen KZs geplagten, seelisch und körperlich zerstörten Eltern, Großeltern, Geschwister, Tanten, Onkel und auch wir Kinder gemeint, die das Leid schon im Mutterleib empfingen und die Angst an der Mutterbrust tranken.

Die Reichspogromnacht muß für jeden deutschen politischen sowie kirchlichen und auch wirtschaftlichen Hoch- und Tiefgang herhalten — nicht anders als dies Jeschua (Jesus) tun muß für die bezahlten winterlichen Feiertage, für Plätzlebacken, Weihnachtsverkehrsstaus, Geschenkorgien, Familienstreitigkeiten und andere Dinge, die mit ihm gar nichts zu tun haben, sondern nur der Machtpolitik, der Wirtschaft und der Kirche dienen.

Jetzt, am 9.11.91 hat es nichts gekostet, Juden als „positives Alibi“ zu erwähnen. Wie wird es wohl am 9.11.93 aussehen, wo es eventuell schon eine Einspeicherung in einen Computer oder andere Unannehmlichkeiten kosten kann, wenn man Juden als gutes Beispiel nimmt? Wo werden die Tausenden von gestern sein? Werden wieder viele andere — oder auch jene selber — zu Tausenden gegen uns auf die Straße gehen? Schoschana Platschek-Brassoi

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