: Das Böse im Blick
Europas Versagen im ehemaligen Jugoslawien ■ Von Rado Riha
Blutige Nationalitätenkämpfe, irrationale politische Leidenschaften, machtbesessene politische Führer, kurz: akuter Nationalismus, so ließe sich die Diagnose zusammenfassen, die von der europäischen Politik — ich verstehe darunter die Resultate aus dem jeweiligen Kräfteverhältnis der zwölf — für all das aufgestellt wurde, was heutzutage im ehemaligen Jugoslawien geschieht.
Es wäre sinnlos, den Nationalismus zu leugnen. Auch demokratische politische Verhältnisse in Slowenien waren und sind immer noch stark vom sogenannten „nationalen Gefühl“ — was immer das auch sein soll — geprägt. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich die These, die man öfter in den ehemaligen sozialistischen Ländern zu hören bekommt — daß nämlich die kommunistische Ideologie fast 50 Jahre hindurch jede nationale Identität systematisch unterdrückt hat und deshalb nach dem Zerbrechen des kommunistischen Joches die nationalen Gefühle irgendwie ausgelebt werden müssen —, daß ich also diese These für theoretisch problematisch und politisch unhaltbar halte.
Der Nationalismus, von dem Europa spricht, ist aber nicht jener Nationalismus der einzelnen Republiken. Der Nationalismus, den die europäische Politik als das Gemeinsame der „jugoslawischen Verhältnisse“ zu erkennen glaubt, ist ein Phänomen, das nur im europäischen Blick besteht. Als „Beispiel Jugoslawien“ bestätigte sich einmal mehr die These Hegels, daß das Böse im Blick liegt.
Etwas vereinfacht gesagt: Wir im ehemaligen Jugoslawien haben alle möglichen Übel angesammelt, unter anderen auch den Nationalismus. Zum wirklich Bösen wurde aber diese Übel erst, als der sich für neutral ausgebende Blick der europäischen Politik in ihnen nichts anderes als den Nationalismus identifizieren konnte. Dieser Blick hat den Nationalismus aus einem politischen Element im Geflecht „jugoslawischer“ politischer Verhältnisse in eine substantielle Entität, in ein Sein umgewandelt. Slowene, Kroate, Serbe, kurz: „Jugoslawe“ sein, bedeutet heute einfach — Nationalist sein.
Kein Wunder, daß die europäische Politik ihre Nationalismus-Diagnose heute bestätigt findet — hat sie doch alles, aber wirklich alles getan, um gerade diese Komponente des Politischen zu einer tatkräftigen Existenz zu bringen. Sie versuchte mit allen politischen Mitteln, ihre Wunschphantasie eines einheitlichen Jugoslawien durchzusetzen, ohne dabei auf reale wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Interessen der einzelnen Republiken einzugehen — und erreichte damit, daß Jugoslawien, das noch vor drei Jahren als konföderativer Staat zu retten gewesen wäre, heute nicht mehr existiert. Sie versuchte, offen zutage tretende politische Widersprüche undifferenziert und ungelöst in einen gemeinsamen Rahmen zusammenzupressen und zu unterdrücken — und erreichte damit eine solche Vertiefung dieser Widersprüche, daß sie heute wirklich unlösbar scheinen. Sie wies alle Autonomietendenzen mit einer beispiellosen Überheblichkeit als Separatismus ab — und erreichte damit nicht nur, daß Jugoslawien wirklich in seine einzelnen Teile zerfiel. Eine der unmittelbaren Folgen der Nichtanerkennungspolitik Sloweniens und Kroatiens ist auch die Stärkung der europafeindlichen, xenophobisch-nationalistischen Rechten in beiden Staaten.
Die phantasmatischen „jugoslawischen Nationalismen“, die als Zielobjekt des europäischen Blicks fungieren, spielen meiner Meinung nach eine wichtige Rolle im gegenwärtigen Integrationsprozeß Europas. Dieses Phantasma erzählt uns etwas von der Art und Weise, wie sich die europäische Politik mit all dem auseinandersetzt, was zwar wesentlich zu Europa gehört, gleichzeitig aber innerhalb der universellen Kultur Europas etwas „Uneuropäisches“ darstellt — mit spefizischen europäischen Partikularismen und Verschiedenheiten, mit Problemen zwischeneuropäischer Beziehungen und nationaler Unterschiede.
Das Phantasma der „jugoslawischen Nationalismen“ ist ein Anzeichen dafür, daß sich Europa heute weder auf symbolischer noch auf realer Ebene durch eine wirkliche Aueinandersetzung und Anerkennung seines eigenen Heterogenen integriert. Dieser Integrationsprozeß wird vielmehr von der gegenwärtigen europäischen Politik als ein regelrechter Verdrängungs- und Ausschließungsprozeß gehandhabt. Europa 92 konstituiert sich durch Ausschließung seiner eigenen Differenzen. Durch die Figur der barbarischen „jugoslawischen Nationalitätenkämpfe“ können innereuropäische Unterschiede und Partikularismen gedacht werden, ohne dabei in ihrer irreduziblen Verschiedenheit und Partikularität wirklich anerkannt zu werden. Vermittels dieses Phantasmas rechnet die europäische Politik wortwörtlich mit Europas Partikularismen ab. Würde es Jugoslawien mit seinen realen Problemen nicht geben, dann müßte sich die europäische Politik „Jugoslawien“ einfach ausdenken — darin ist einer der Gründe zu suchen, warum Jugoslawien, das für seine ehemaligen Staatsbürger schon lange tot ist, seine spukhafte Existenz noch weiterführt und sich als lebendiger Toter mit Fleisch und Blut seiner Bürger ernährt.
Brecht hat, seine berühmte Figur kommentierend, geschrieben, daß Mutter Courage aus ihrem Unglück nichts lernen könne, daß aber wir, das Publikum, ihr Leid betrachtend, dennoch etwas lernen könnten. Mit Bestürzung stelle ich fest, daß für das Verhältnis Europas dem ehemaligen Jugoslawien gegenüber genau das Umgekehrte gilt. Der serbische Eroberungskrieg hat wenigstens bei einer der kämpfenden Parteien, bei den Kroaten, Lernprozesse bewirkt. So wissen und reden heute die Kroaten davon, daß eine Regierung, die fortwährend vom Volk spricht, für das Volk unheilbringend ist. Sie wissen und reden davon, daß eine Regierung, die von Demokratie redet, aber eine autokratische Politik führt, eine Regierung, die Presseberichte zensuriert und unbequeme parlamentarische Parteien aus dem Weg zu schaffen sucht, auf dem besten Weg ist, den Krieg zu verlieren.
Nur das zuschauende Europa hat bisher aus dem jugoslawischen Beispiel, wie es scheint — mit Ausnahme einiger weniger Länder — gar nichts lernen können. Daß sich diese europäische Politik, salonfähig und wortkräftig, wie sie ist, noch heute nach Tausenden von Toten nicht durchringen konnte, jene Seite, die einen eindeutigen Eroberungskrieg führt, Serbien also, öffentlich und tatkräftig als Aggressor zu identifizieren, das ist zwar schlimm, aber noch kein Grund für wirkliche Besorgnis. Dieses Verhalten der europäischen Politik hat uns in Slowenien wenigstens geholfen, nach der Euphorie der demokratischen Umwandlung wieder zur Realität zurückzufinden. Wir wissen heute nicht nur, daß man von der europäischen Politik, auch wenn es um Menschenrechte und um Demokratie geht, nichts erwarten darf, sondern alles erzwingen muß. Wir wissen auch, daß wir uns nicht mehr nach Europa zu sehnen brauchen, daß unser Ziel schon erreicht ist — wir wissen, daß wir genauso selbstsüchtig, selbstgenügsam, selbstgerecht, unkompetent und heuchlerisch sind wie die gegenwärtige europäische Politik. Wir wissen uns als echte Europäer.
Ernste Besorgnis erregt etwas anderes — daß nämlich die europäische Politik die jugoslawischen Geschehnisse nicht zum Anlaß genommen hat, die Tragfähigkeit ihres Universalismus und ihrer dialogischen Kultur noch einmal gründlich zu überprüfen, daß sie am „Beispiel Jugoslawien“ nichts über sich hat lernen können. Was sie aber über sich hätte lernen müssen, ist, daß die gegenwärtige Integrationspolitik Europas in Wirklichkeit nicht durch Anerkennung, sondern durch Ausschließung von all jenem vor sich geht, was sich nicht ohne Rest universalisieren läßt. Durch die Konstruktion der phantasmatischen „jugoslawischen Nationalismen“ wird von der europäischen Politik eine doppelte Verzerrung vollbracht: Sie stellen eine verzerrte Gestalt des Nationalismus als wirkliches Element der wirklichen Verhältnisse in den einzelnen Republiken dar, und sie stellen eine verzerrte Gestalt des uneuropäischen Moments im Inneren Europas selbst dar.
Aus dem Umkreis der Haager Konferenz stammt eine Aussage, die meiner Meinung nach das Elend der gegenwärtigen europäischen Jugoslawien-Politik in konzentrierter Form widerspiegelt. Als sich die Bombardements von Dubrovnik doch nicht mehr wegdenken ließen, entschied sich die europäische Politik zu einem entschlossenen Protest. Ihr Wortführer formulierte so folgende Aussage (ich zitiere nach der Erinnerung): „Europa verurteilt die fortwährenden militärischen Angriffe auf Dubrovnik, diese Bombardements stehen in keinem Verhältnis zu den Zielen, die das jugoslawische Militär verlangt“ — zur Deblockierung der Kasernen, „Beschützung“ der Serben und was auch immer noch die europäische Politik der uniformierten Bande der Kriegsverbrecher, die sich selbst als Jugoslawische Volksarmee bezeichnet, als ihr „militärisches“ Ziel großzügig anerkannte.
Soviel mir bekannt ist, erhob sich in Europa gegen diese barbarische Aussage eines adligen Engländers keine Stimme. Und doch besagt sie, ihrer Logik nach, nichts anderes, als daß die Vergasung der Juden im Zweiten Weltkrieg in keinem Verhältnis zu den gesetzten militärischen Zielen stand, letztendlich also ein wenig übertrieben war.
Ljubljana, 24.11.1991
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