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Böhme-Show ohne Böhme

■ Abschlußveranstaltung der Werkschau »Plädoyer für die Wahrheit«

Vier Tage lang diskutierten Jugendliche mit Schriftstellern, Liedermachern und politisch Verfolgten im Wilmersdorfer Jugendzentrum »Spirale« den Machtmißbrauch in der DDR; der Höhepunkt sollte am Freitag ein Streitgespräch mit einem der politisch Verantwortlichen sein — Ibrahim Böhme.

Doch der ehemalige SPD-Spitzenmann erscheint nicht, und so entwickelt sich ein recht merkwürdiger Abend. Ein Moderator, der sich nicht vorstellt, kündigt einen jungen Sänger an, Udo Zschiesche, der zu Gitarrenmusik über das Ende des sozialistischen Staates reimt: »Kleine Kinderfinger brechen Mauerstücke raus, mit der Reminiszenz des Grauens ist es aus...«

Zwei andere Moderatoren begrüßen nochmals die vier anwesenden Jugendlichen, zehn Journalisten und 35 weiteren Gäste der Veranstaltung, um dann Platz zu machen für Herrn Dietmar Linke. Herr Linke stellt sich auch nicht weiter vor, sondern protestiert gleich energisch gegen die Abwesenheit Ibrahim Böhmes, indem er seinen Stuhl neben sich »symbolisch« freiläßt.

Ein weiterer Protest erfolgt, diesmal gegen die »Mediengeilheit auf Leute, die uns schon früher den Platz weggenommen haben. Mir ist neulich schlecht geworden, als ich ein Gesicht gesehen habe, das mir aus der Vergangenheit sehr vertraut war.«

Einigen Zuhörern ist inzwischen auch schlecht geworden, und sie verlassen den Raum.

So war es nur wenigen abgehärteten Politfreaks vergönnt, Chaim Nolls Worten zu lauschen. Chaim, der eigentlich Hans heißt, aber während des Golfkrieges aus Solidarität mit Israel einen neuen Namen annahm.

»Ich habe mich entschieden, nichts aus meinen schon veröffentlichten Büchern oder aus Büchern, an denen ich arbeite, vorzulesen, sondern einen ganz aktuellen Text, den ich vor ungefähr zehn Tagen geschrieben habe für eine Zeitschrift, der da jetzt erschienen ist...«

Noll scheint es noch als ungewohntes Gefühl zu genießen, daß er ungehindert seine Schriften veröffentlichen darf. Es folgt ein wilder Ritt durch die deutsche Kulturgeschichte: Goethe, Mommsen, die Freiheitskriege, Gustav Freitag, Heinrich Mann und Käthe Kollwitz, Mauerfall und das Wilhelminische Reich. Noll sprach von diesem und von jenem, nur nicht ein Wort über den Machtmißbrauch in der DDR. Die Veranstalter versprachen ein politisches Streitgespräch — heraus kam eine Mischung aus Heimatabend und Volkshochschulkurs für Ossis. Werner

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