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■ DIE PREDIGTKRITIK, HEUTE EVANGELISCHVon Barmherzigkeit und Gnadenwirtschaft

Warum in die Kälte stapfen, wenn das Radio ist so nah... Wer von spätherbstlicher Grippe aufs Lager geschlagen ist und dennoch auf Gottes Wort nicht verzichten will, braucht nicht zu verzweifeln: schon um 7.35 Uhr, wenn die Nase längst wieder seit einigen Stunden läuft und die Nebenhöhlen so richtig schön zu sind, dann bietet RIAS1 die Morgenfeier, diesmal mit Carin Brunner von der Kirchengemeinde zur frohen Botschaft in Karlshorst. »...die männlichen Feuerkäfer bieten den Weibchen ihre Hirnspalten an, aus denen ein Aphrodisiakum tropft, das die Weibchen begattungswillig macht —«, nein, das kann noch nicht die Pastorin sein, ist ja auch noch ein bißchen zu früh. Es sind Worte aus der Reihe »Durchblick — Antworten der Wissenschaft auf Fragen der Zeit« — Beitrag »Damenwahl« — wo es nämlich die ganze Zeit darum geht, daß die Frauen in der Natur diejenigen sind, die alles über Partnerwahl und Familiengründung bestimmen. Und das, so sagt die Frau im Radio, liege daran, daß die Weibchen mehr investieren müssen im gesamten Fortpflanzungsgeschäft, deshalb suchen sie sehr sorgfältig aus. Ich weiß aus meinem menschlichen Bekanntenkreis, daß das nicht immer der Fall ist — eher eigentlich gar nicht, und, Gott sei Dank, eh man sich empören kann und muß, kommt schon die Pastorin, erzählt vom Einzug Jesu in Jerusalem: »...und da stand eine Eselin und ein Fön bei ihr...«? Ach nein, es war kein Fön (sondern die zuen Nebenhöhlen) — ein Füllen. Mit der Eselin zog Jesu ein und rief »Tochter Zions, freue dich« — käme Jesus heute, sagt die Pastorin, käme er im Trabant (meine Rede schon seit langem, daß dieser mit dem Stolz von Ben Hur gelenkt werden soll — dann sieht alles gleich ganz anders aus). Der Esel also gleichsam als Trabant oder umgekehrt. In der Hand hält Jesus das Szepter der Barmherzigkeit, und da hält die Pastorin wieder inne, muß sie doch gleich daran denken, daß Barmherzigkeit in diesen Tagen rein gar nichts mehr wert ist. Neulich hörte sie sogar einen Schüler zu einem anderen sagen: »Die Lehrerin ist zum Erbrechen« — (wir sind sicher, daß der Schüler »zum Kotzen« gesagt hat, aber daß die Pastorin sich nicht traute), aber Jesus liebt, lehrt lieben und lobt die Barmherzigkeit — das hat sie jetzt hübsch arrangiert, all die Worte mit L am Anfang ... aber es nützt nichts, weil die Pastorin als solche doch recht traurig ist, weil es hier mit der Barmherzigkeit nicht so weit her ist. Und jetzt hab' ich wohl einen Moment nicht aufgepaßt, weil sie immer was von »Gnadenwirtschaft« sagt, die Jesus in der Wüste gelebt hat — dabei war er doch noch gerade fröhlich in Jerusalem auf seinem Trabant eingeritten. »Advent« heißt Ankunft Jesu in Jerusalem, und Jesus ist die Bewegung zu uns hin — der Predigten sind recht kryptisch heutzutage: man kann nicht wirklich verstehen. Danach »Macht hoch die Tür« — eigentlich ein schönes Lied, warum nur so abscheulich gewimmert? Und nach ALLEN Strophen redet die Pastorin schon wieder weiter von Barmherzigkeit, Gnadenwirtschaft und Advent! Der Kopf ist zu, die Nase läuft — ist Gott nur für die Gesunden? [Wenigstens die vollgerotzten Taschentücher könnt' er schneller trocknen lassen, aber ... d. säzzer] Renée Zucker

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