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»Schweineöde« muß abspecken

■ Pressekonferenz zur ungewissen Zukunft der Industrieregion Oberschöneweide/ Betriebsräte fordern rasche Entscheidung des Senats

Oberschöneweide. Eine Beteiligung der Betriebsräte an den Verkaufsverhandlungen der Treuhand und ein klares Bekenntnis des Berliner Senats zum Industriestandort Oberschöneweide forderten gestern die Interessenvertreter aus sechs bisher noch nicht privatisierten Betrieben des traditionsreichen Ost-Berliner Industriebezirks.

Eine Zukunft, so erklärten sie auf einer Pressekonferenz im Werk für Fernsehelektronik (WF), hat die im Volksmund »Schweineöde« genannte Industrieregion ihrer Auffassung nach nur mit dem abgespeckten Erhalt der Industriebetriebe. Außerdem sei ein Programm zur Ansiedelung von Klein- und Mittelbetrieben nötig sowie eine Begrünung vor allem der Uferböschungen an der Spree, eine Ansiedlung von Tourismus- und Freizeiteinrichtungen in Köpenick, die Verwandlung freiwerdender Industrieverwaltungen in Bürogebäude und eine grundlegende Sanierung der Bausubstanz der Wohnhäuser.

All dies sei vorstellbar, so Holger Kaselow, Betriebsrat und Geschäftsführer der Entwicklungs- und Qualifizierungsgesellschaft des WF, wenn nur endlich gehandelt würde. Je länger man warte, um so rascher verfalle das Industriepotential der Region. Diese Sicht unterstrichen gestern morgen ebenfalls rund 300 MitarbeiterInnen der Oberschöneweider Betriebe mit einer zehnminütigen Protestversammlung vor dem Werkstor des WF. Ein Sprecher der IG Metall drohte härtere Kampfmaßnahmen wie zum Beispiel Werkstorbesetzungen, unlängst in Hennigsdorf geschehen, an.

Der Personalabbau der Betriebe am Standort ist in der Tat dramatisch. Das Werk für Fernsehelektronik beschäftigt von ehemals rund 9.000 MitarbeiterInnen heute nur noch rund 2.800, die Kabelwerke Oberspree (KWO) von einst etwa 5.600 nur noch 2.600, das Transformatorenwerk (TRO) von ehemals 2.800 noch 2.500, die Batterie GmbH (BAE) von 1.200 noch 600, das Funkwerk (FWK) von 3.000 noch 2.000 und die Berliner Metall und Halbzeugwerke (BMHW GmbH) von rund 2.400 noch etwa 1.000 MitarbeiterInnen.

Ob diese Zahlen 1992 gehalten werden können, ist ungewiß. Alle Betriebsräte gehen von weiteren Reduzierungen aus. Durch Arbeitsförderungsgesellschaften kann nach übereinstimmender Aussage der Interessenvertreter nur maximal 20 Prozent aller Entlassenen aufgefangen werden. Insgesamt sind von ehemals 36.000 Beschäftigten in der Region heute noch rund 12.000 in Arbeitsverhältnissen.

Rasche Entscheidungen des Senats und der Treuhand sind aus der Sicht der Betriebsräte deshalb dringend erforderlich, da sich jetzt schon ein großer Teil der jungen und qualifizierteren MitarbeiterInnen dem täglichen Pendlerstrom nach West- Berlin angeschlossen habe. Je länger ein Bekenntnis des Berliner Senats zum Metall- und Elektroindustriestandort Schöneweide ausbleibe, um so größer sei die Gefahr einer Konzentration von Investitionen außerhalb Berlins in Brandenburg. Komplizierte Entscheidungsstrukturen zwischen den verschiedenen Senatsbehörden und wuchernde Gewerbemieten führten zusätzlich zu einer Verzögerung bei der Ansiedlung von Klein- und Mittelbetrieben.

Die versammelten Betriebsräte hatten sich schon im April 1991 in einer regionalen Koordinationsgruppe zusammengeschlossen. Auf der Pressekonferenz war nicht erkennbar, mit welchen Mitteln die Betriebsräte ihren Forderungen Nachdruck verleihen wollen. Ein nächstes Treffen im Rahmen der Regionalkonferenz wurde für den 9. Dezember angekündigt. Martin Jander/Stefan Lutz

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