DEBATTE
: Pearl Harbor als Metapher

■ Immer noch glaubt der Westen, Japan sei selbstmörderisch und falle mit seiner expansiven Wirtschaftspolitik von Katastrophe zu Katastrophe

Die Katastrophe trat ein, ganz wie erwartet. 1931 überfielen japanische Truppen die Mandschurei; damit war das Unglück vorprogrammiert. Sechs Jahre später folgte die Invasion weiterer Teile Chinas. Japan befand sich auf dem Weg zur Großmacht. Doch der 8. Dezember vor genau fünfzig Jahren brachte die Wende. Der Angriff auf Pearl Harbor, so schrieben es später Hunderte von westlichen Historikern, leitete den Anfang vom Ende des japanischen Hegemonietraumes ein. Am 6. August 1945 schließlich, dem tragischen Datum des Atombombenabwurfs auf Hiroshima, lag die japanische Nation in Grund und Boden zerstört zu Füßen des amerikanischen Siegers. Fortan, so durften wir im Westen glauben, schrieb Amerika die pazifische Weltgeschichte allein.

Fünfzig Jahre nach Pearl Harbor ist es nun allerdings offensichtlich, daß sich der Westen samt seiner Historiker gründlich getäuscht hat. Japan ist längst wieder Großmacht. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs steht es allein Japan noch zu, den USA den Ruf der Nummer 1 in der Welt streitig zu machen. Es bedarf keiner wissenschaftlichen Künste, um auszurechnen, daß Nippon unter den derzeitigen Konjunkturbedingungen schon im Jahr 2000 annähernd 90 Prozent des US-amerikanischen Bruttosozialprodukts erwirtschaften würde. Tokio wäre dann das konkurrenzlose Zentrum der Weltwirtschaft.

Der Ferne Osten ist immer noch fern

Doch freilich, so recht will daran im Westen noch niemand glauben. Ist Japan denn nicht spätestens seit Pearl Harbor für jede Katastrophe gut? fragt man sich. Mit dem damaligen welthistorischen Suizidkommando trat Japan vor fünfzig Jahren in das Bewußtsein des Westens. Seitdem unterliegt der Westen der Illusion, alle japanischen Anstrengungen seien suizidär. Erst kürzlich geschah eine andere Katastrophe. Sie war vorprogrammiert, als die japanische Zentralbank in Reaktion auf die Währungsabsprachen von 1985 (Plaza Accord) den Leitzins auf den historischen Niedrigsatz von 2,5 Prozent drückte. Mit dem starken Yen und niedrigen Zinsen legte die Tokioter Börse kräftig zu. Ebenso ungläubig, wie man einst die japanische Invasion in China zur Kenntnis nahm, mußte man nun erfahren, daß der Kabutocho die Wall Street überrundete. Japan war nun Finanzmacht Nummer 1. Doch dann folgte auch hier die Wende. Am 1.Januar 1990 hatte der Tokioter Aktienindex seinen Höhepunkt erreicht, und fortan ging es bis tief in den Keller.

Damit schlug erneut die Stunde der Historiker. The Sun also sets — „Die Sonne geht auch unter“, lautete im Jahr 1990 der vielbeachtete Japan-Bestseller des englischen Journalisten Bill Emmott. Im Sommer dieses Jahres dann, als auf das Börsentief ein Skandalbrand nie dagewesenen Ausmaßes die Tokioter Finanzindustrie in Schutt und Asche zu legen drohte, schien die japanische Sonne endgültig untergegangen. Die Katastrophe an der Kabutocho, von fremden Beobachtern genauso vorhergesagt wie einst das unrühmliche japanische Kriegsende, bestätigte den im Westen weitverbreiteten Glauben, die japanische Macht sei dumm genug, sich immer wieder selbst zu zerstören.

Doch siehe da: Fünf Monate nach der Tabula rasa auf der Kabutocho steht schon wieder das erste Morgenrot über der japanischen Finanzwelt. Ausgerechnet die großen Tokioter City-Banken gaben vor kaum einer Woche den Neuaufbruch bekannt: Sie, denen die Propheten Himmel, Hölle und vor allem schreckliche Verluste versprochen hatten, konnten nun in Tokio Gewinnbilanzen wie in den besten Jahren vorlegen.

Wann immer ausländische Beobachter eine Krise ganz gleich welcher Industrie in Japan voraussagen, widersprechen die Japaner in der Regel nicht. Hiobsmeldungen aus Japan beruhigen die ausländische Konkurrenz. Wer in den letzten Wochen durch die 'Financial Times‘ oder andere internationale Wirtschaftspublikationen blätterte, fand täglich genüßlich kommentierte Meldungen über neue Rekordeinbußen von Sony, Toyota, Hitachi & Co. Bestätigen somit nicht alle Tendenzen, daß sich Nippons hochgelobte Weltmarktführer wieder einmal übernommen haben? Werden die japanischen Großkonzerne also zurückstecken müssen und damit ihrer westlichen Konkurrenz mehr Spielraum bieten? Es fällt dem Westen nur allzu leicht, an solche Versprechen zu glauben.

Dem Sonnenuntergang folgt das Morgenrot

Nur in Japan kümmern solche Aussprüche niemanden. „Erst unter Schwierigkeiten“, lautet die programmatische Botschaft von Tsuneo Wakai, dem Präsidenten der Mitsubishi Bank, „haben wir Gelegenheit, unsere Fähigkeiten zu beweisen.“ Der Weg heißt in Japan immer wieder: Selbstkritik und Veränderung von innen. Die japanischen Geschäftsbanken hatten schon vor einem Jahr eine „Korrektur ihrer Geschäftspraktiken“ angekündigt. Die Geschäftsergebnisse der Banken erzählen heute die Resultate der betriebsinternen Roßkur. Das Beispiel der Banken wird voraussichtlich Schule machen. Sechs Wochen lang gingen manche Nomura-Abteilungen in diesem Herbst auf Klausur, um die inneren Gründe ihrer Mißwirtschaft zu erforschen. Trotz aller nun aufgedeckten Gangstergeschäfte mit der mächtigen Yakuza- Mafia könnte Nomura auf diese Art und Weise — viel schneller als manche erwarten — seinen guten Namen zurückgewinnen.

Das alles aber läßt die westliche Vorstellung vom japanischen Sonnenaufgang, dem zwangläufig der Untergang folgen muß, nicht verblassen. Schon der Engländer Basil Hall Chamberlain, der zur letzten Jahrhundertwende einflußreichste westliche Japanologe, prägte dieses Bild: „Die Japaner“, so Chamberlain 1904, „sind tapfer bis zur Sinnlosigkeit.“ Heute bestätigt „karoshi“, der propagierte Erschöpfungstod überarbeiteter japanischer Angestellter, die westliche Gewißheit über die selbstmörderische Sinnlosigkeit japanischer Tapferkeit am Arbeitsplatz.

Statt Kamikaze kühles Kalkül

Genau von dieser Tapferkeit bezeugte auch jener japanische Intellektuelle, der im Westen nach dem Krieg nur deshalb die größte Berühmheit erlangte, weil er den Kamikaze-Fliegern des Zweiten Weltkriegs am meisten ähnelte: der Dichter Yukio Mishima. Keine Geringere als die französische Literaturwissenschaftlerin Marguerite Yourcenar erkannte in dem Selbstmörder Mishima noch Anfang der achtziger Jahre den „authentischen Repräsentanten“ des modernen Japan. Doch genauso wenig wie die im Einzelfall grausamen Geschichten vom Erschöpfungstod ein korrektes Bild des japanischen Arbeitsleben zeichnen, genausowenig kann der Narziß und Kaiserfanatiker Mishima heute noch Aufschluß über den Seelenzustand der japanischen Nation geben.

Fünfzig Jahre nach Pearl Harbor ist Japan die weitgehend von ökonomischen Interessen gelenkte, zweitgrößte Industriemacht der Welt. Statt wie früher Kamikaze-Flieger baut Mitsubishi Heavy Industries heute die Weltraumrakete H2. Für manche beinhaltet das ein untragbares finanzielles Risiko, anderen wiederum erscheint es als eine vielversprechende Jahrhundertinvestition. Doch nicht sinnlose Tapferkeit auf dem Weg zur Eroberung des Weltalls entscheidet heute über das Raketenprojekt, sondern kühles industriepolitisches Kalkül wider die westliche Konkurrenz.

Spätestens seit Global 2000, dem Bericht an den US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, gibt es Gründe genug, die Entwicklung der gesamten Weltwirtschaft für suizidär zu erklären — doch die Japaner gehen dabei nicht selbstmörderischer zu Werke als andere auch. Davon einmal abgesehen aber gilt, daß sich die Wirtschaftsmacht Japan derzeit nicht auf einem Pearl-Harbor- Kommando befindet. Ganz im Gegenteil. Georg Blume, Tokio