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Kokain, Gewalt und „Volksmilizen“

Die Selbstaufgabe des kolumbianischen Medellin-Kartells hat in der „gewalttätigsten Stadt der Welt“ zu sozialer Desintegration und wachsender Kriminalität geführt. Während in Medellin jetzt „Volksmilizen“ gegen die Killerbanden aktiv sind, boomt das Kokaingeschäft und die damit verbundene Gewalt in Cali, Kolumbiens drittgrößter Stadt.  ■ VON KAI AMBOS

Im wohlhabenden Teil Medellins ist das Leben ruhiger geworden. Seitdem die führenden Köpfe des Medellin-Kokainkartells im Gefängnis sitzen, wurden die willkürlichen Terrorakte der Männer des Kartellführers Escobar eingestellt. In den Armenvierteln ist die Situation hingegen völlig außer Kontrolle geraten.

Hier, in den barrios im Nordosten und Westen der Kokainmetropole Kolumbiens, hat die Inhaftierung Escobars und der anderen Kartellführer zur Auflösung der bisherigen kriminellen Strukturen geführt. Die Organisation Escobars war zuvor zum alleinigen „Arbeitgeber“ avanciert und hatte somit die Kriminalität „organisiert“. Nun aber werden zahlreiche „Arbeitskräfte“ freigesetzt: Offiziell beträgt die Arbeitslosigkeit in Medellin 14Prozent, und in den barrios kann sie leicht die 50-Prozent- Marke überschreiten. Die ehemaligen Mitglieder der Escobar-Organisation schlagen sich nun als gemeine Jugendbanden durch — nicht zuletzt durch den Verkauf des Kokain-Nebenproduktes basuco.

„Diejenigen, die vorher mit Escobar gearbeitet haben, klauen Dir heute Deine Uhr, um überleben zu können“, erzählt José, Lehrer an einer Mittelschule im barrio Manrique. „Dafür bringen sie auch schon mal jemanden um.“

600 Jugendbanden gibt es gegenwärtig in Medellin, mit insgesamt 6.000 Mitgliedern. Durchschnittsalter: 16 Jahre. Zum April 1991 wurden 39Prozent aller Morde Kolumbiens in Medellin begangen — 1990 waren es noch 26,5Prozent. Vier von fünf Morden werden mit der Schußwaffe begangen — vor drei Jahren betrug der Anteil zwei Drittel. Täter wie Opfer sind zumeist Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren.

Den staatlichen Sicherheitskräften ist es nicht gelungen, die eskalierende Kriminalität unter Kontrolle zu bringen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß insbesondere die Spezialkommandos der Polizei (el cuerpo elite und die „F2“) im Ruf stehen, eher Komplizen der Kriminellen zu sein als unbestechliche Verfolger. Dies bestätigt Ignacio Mejia, ehemaliger Chef der Rechtssprechung der Öffentlichen Ordnung im Department Antioquia: Die richterlichen Haftbefehle, so klagt er, stellen „ein Wertpapier und Verhandlungsinstrument für die Polizei“ dar, mit denen sie wie die Kriminellen ihr Einkommen aufbessern. Emma Mejia, Beauftragte des Präsidenten für das spezielle Medellin- „Befriedungsprogramm“, stellt nicht weniger drastisch fest, daß „die Polizei eine ungeheuerlich diskreditierte Institution in allen Sektoren Medellins ist, nicht nur in den Armenvierteln“.

Ergebnis des Mißtrauens: die Bevölkerung organisiert sich selbst, in Form sogenannter Volksmilizen, denen nach Geheimdienstschätzungen fünf- bis achttausend Menschen angehören. Ihre klandestine Arbeitsweise hat eine Art Mythos entstehen lassen. Die Henkerkapuzen, die bei nächtlichen Hinrichtungen getragen werden, sind dafür ein extremer Ausdruck.

Medellin: „Wir sind das Volk“

Donnerstag abend, irgendwo im Nordosten von Medellin oberhalb des Barrios „20.Juli“. Comandante Ivan hat ein Treffen organisiert. Anwesend sind Studentenmilizen, die „Volksmiliz der Befreiung“, das „Freie Amerika“. Wieviele Mitglieder haben sie? „Uns interessieren keine Zahlen“, sagt Hernan, Vertreter der Studentenmilizen. „Uns interessiert die Realität, die faktische Kontrolle von Zonen. Der Feind vergißt, das Volk mitzuzählen. Die Milizen sind das Volk.“

Vorrangig geht es an diesem Abend um die „Selbstverteidigung“ des Volkes gegen „die unzähligen Banden von sicarios, die Unmengen von Lumpen“. Die Veränderung gegenüber dem Beginn der 80er Jahre, als „Volksmilizen“ im Sinne einer revolutionären Avantgarde gesehen wurden, ist weniger grundsätzlich als es erscheint. Es geht um die „soziale Säuberung“ — die Milizen sprechen lieber von ajustacemientos oder „Bereinigungen“ im Sinne revolutionärer Gewalt. Dies geschieht in drei Phasen: Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung, Ausführung der „Bereinigungen“, Entwicklung eines besseren Zusammenlebens.

„Die Bereinigungen“, so Alonso von der „Volksmiliz der Befreiung“, „führen wir nicht aus, weil es uns gefällt, sondern weil die Gemeinschaft so entscheidet. Das ist wie ein Justizverfahren mit Zeugen und Richtern. Die Gemeinschaft ist Zeuge und Richter zugleich.“ Kritik an ihren Methoden, insbesondere an den Hinrichtungen, an der Privatjustiz und am Faustrecht, weisen die Milizionäre zurück. „Im Unterschied zu den paramilitären Banden“, sagt Julio von „Freies Amerika“, „kommen wir nicht an irgendeine Straßenecke oder ein Lokal und fangen an, wild um uns zu schießen. Wir sind bereit, jedem zuzuhören, mit jedem zu diskutieren. Aber man muß die Realität sehen. Hier gibt es so häßliche Dinge, wie Du sie Dir nicht vorstellen kannst.“

Auch wenn die Vorstellung der nächtlichen Hinrichtungen Unbehagen bereitet — die Unterstützung, die die Volksmilizen in der Bevölkerung genießt, ist nicht zu übersehen. Beim nächtlichen Rückzug aus der von ihnen kontrollierten Zone werden sie vertrauensvoll und wohlwollend begrüßt. Schon die Tatsache, daß zu dieser nächtlichen Stunde — halb elf Uhr abends — in dieser Gegend überhaupt noch Menschen auf der Straße sind, spricht für sich: In anderen Teilen Medellins, auch wohlhabenderen, wo es keine Milizen gibt, wäre dies höchst ungewöhnlich.

Offizielle Stellen tun sich mit dieser Situation schwer. Emma Mejia hält die Milizen einerseits für „nicht legitim“ und „undemokratisch“, erkennt andererseits aber ihre „Legitimität“ aufgrund der Unterstützung durch die Bevölkerung an. Dieser Widerspruch spiegelt treffend die schwammige Legitimitätskonzeption des herrschenden Liberalismus wider: Die Regierung versucht, die repressive Polizeipräsenz durch eine eher „präventive“ Zivilpräsenz des Staates zu ersetzen, in der Transparenz und Klagemöglichkeiten gegen Machtmißbräuche für die Bevölkerung geschaffen werden. Gleichzeitig werden jedoch die bestehenden Polizeikräfte verstärkt und aufgerüstet. Und so wird Medellin wohl weiterhin als die gewalttätigste Stadt der Welt gelten.

Cali: „Wie Schinken auf dem elektrischen Stuhl“

Cali, reiche Provinzhauptstadt des Department Valle, ist mit über drei Millionen EinwohnerInnen die drittgrößte Stadt Kolumbiens. Die besseren Armenviertel, im Zentrum und an der nordwestlichen oder südöstlichen Peripherie, ähneln den beschriebenen Zonen Medellins: stabile Steinhäuser, Hütten mit Dächern und Fenstern. Anders sieht es im südöstlichen Stadtdistrikt Aguablanca aus. Einst gab es hier eine große Lagune, die aber von Neuansiedlern mit Erde aufgeschüttet wurde. Heute leben hier 500.000 Menschen, meist Farbige von der Pazifikküste, in Verhältnissen, die die Armut Medellins weit übertreffen: schiefe Dächer, Tücher statt Fenterglas und eine enorme Feuchtigkeit aus dem Boden der Lagune, die den Boden schlammig und für Autos praktisch unpassierbar macht.

Aguablanca gilt als extrem gefährlich. Wie in Medellin gibt es Jugendbanden und Volksmilizen. Letztere sind jedoch mit denen Medellins nicht zu vergleichen. Ihre Einsätze, schwerbewaffnet mit Jeeps und Motorrädern und Hinrichtungen anhand von Schwarzen Listen, lassen eher an die Mittäterschaft der staatlichen Sicherheitsorgane denken.

Doch im „reichen Cali“ hat man andere Sorgen. Das hiesige Kartell hat nach der Inhaftierung des Medellin-Kartells eine führende Rolle in Kolumbien übernommen. Morde an Richtern und Stadträten, die dem Drogenhandel und dem traditionellen Streit um Grundbesitz zugeschrieben werden, sind keine Seltenheit. Drei paramilitärische Gruppen scheinen verwickelt zu sein, mit den schönen Namen „Tod den korrupten Politikern“ (MAPC), „Tod den Richtern“ (MAC) und „Organisierte Kriminalität von Cali“ (DOC). Aber wer steckt dahinter? Handelt es sich, wie in Medellin, um die traditionelle Allianz von Großgrundbesitz, Drogenhandel und Paramilitärs, die Guerilla und Bauern die Kontrolle über den Boden entziehen?

Eines der grausamsten Massaker der Gegend ereignete sich im Ort Trujillo. Elf Bauern, ein Pfarrer und ein Architekt wurden auf die Bauernhöfe „La Beatriz“ und „Los Delirios“, Eigentum des Drogenhändlers Diego Montoya, verschleppt und dort, so ein inzwischen ermordeter Zeuge, „wie Schinken auf einem elektrischen Stuhl zerschnitten“. Die Opfer — oder was von ihnen übrig war — wurden in den Cauca-Fluß geworfen, in dem seit Januar 1988 218 verunstaltete Leichen entdeckt wurden. Eine weit größere Zahl dürfte mit Steinen beschwert auf den Grund gesunken sein.

Die unmittelbare Täterschaft wird meistens den von Armee und Polizei gebildeten paramilitärischen Gruppen zugeschrieben. Drogenhändler, die hier über schwer bewachte Bauernhöfe mit Flugpisten und Kokainküchen verfügen, finanzieren deren Aktivitäten, um sich weiteren Grundbesitz anzueignen.

So sicher die Verwicklung einzelner Drogenhändler ist, so unsicher ist die Rolle des Cali-Kartells. Mindestens drei weitere Kartelle existieren in der Region. Manche Beobachter sprechen von zahlreichen unabhängig arbeitenden Drogenhändlern, deren Beziehungen mit dem Cali-Kartell sich auf die Achtung der gegenseitigen Einflußzonen beschränken. Gilberto Rodriguez Orejuela, Chef des Cali-Kartells, gilt noch immer als der „Schachspieler“, weil er bis heute seinen Einfluß ausgedehnt hat, mit kluger Vorsicht und — so sagt man in Cali — ohne Gewalt. Nur zur Selbstverteidigung im Krieg mit dem Medellin-Kartell soll das Cali-Kartell Gewalt angewandt haben.

In diesem Krieg um Marktanteile, den das Cali-Kartell mit der Aufgabe der Führer des Medellin-Kartells praktisch gewonnen hat, wurde das Cali-Kartell in enger Zusammenarbeit mit der Polizei zum Beschützer der Stadt gegen Terrorangriffe aus Medellin. Der Kartell-Sicherheitsdienst durchkämmte die Billighotels der Stadt nach vermeintlichen Killern aus Medellin, führte Straßenkontrollen und Hausdurchsuchungen durch.

Das Kartell — oder besser die Familie Rodriguez — ist in der Stadt geachtet, mit einer Mischung aus Furcht und Respekt. Zu einem Großteil hat es sein Geld in Banken, Hotels, Dienstleistungsbetrieben und Restaurants investiert — nicht, wie Medellins Pablo Escobar, in Terrororganisationen. Wenn Vater und Söhne der Familie Rodriguez das Nobelviertel Ciudad Jardin verlassen, tun sie es in gepanzerten Wagen und mit Leibwachen, die nicht selten die Polizei stellt.

Die Zusammenarbeit mit dem Staat soll sogar so weit gegangen sein, daß der von der Regierung Barco im August 1989 erklärte „Drogenkrieg“ sich nur deshalb gegen Medellin richtete, weil die damaligen Kriegsführer auf staatlicher Seite Verbündete Calis gewesen sein sollen. Dies wurde zwar nie bewiesen, doch war der damalige Chef der Ermittlungspolizei DIJIN, Pelaiz Carmona, früher Polizeichef Calis. Er wurde letztes Jahr auf einen diplomatischen Posten strafversetzt.

Drogenboß Nummer eins: Gilberto Rodriguez

Die staatliche Justiz und die USA schenken jedoch den Aktivitäten des Cali-Kartells seit einiger Zeit erhöhte Aufmerksamkeit. Ende September erklärte der oberste Gerichtshof einen Freispruch von Rodriguez aus dem Jahre 1986 für nichtig; damit war das Verfahren gegen ihn wieder eröffnet. Auch ist eine wachsende Präsenz von Agenten der US-Drogenbehörde DEA zu verzeichnen.

Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß Rodriguez die Nummer eins im Kokainhandel ist. Bis er den New Yorker Kokainmarkt vollständig von Medellin übernimmt, ist es nur noch eine Frage der Zeit. Außerdem sind die Drogenkartelle Kolumbiens längst in einem anderen Geschäft aktiv: Seit März wurden in mehreren Departments größere Mohnpflanzungen entdeckt, und alles deutet auf einen bevorstehenden Einstieg der kolumbianischen Drogenhändler in das Opium- und Heroingeschäft hin. Wenn sich nicht Gilberto Rodriguez, dem Beispiel Escobars folgend, freiwillig stellt.

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