: Der uneinsichtige Angeklagte
■ Richterin verordnet ein Coming Out / Prozeß um Silvesterkrawall
Vor Gericht gibt es bestimmte Regeln, die nicht in der Strafprozeßordnung stehen. Sie bestimmen oft Regie und Dramaturgie eines Prozesses und nicht selten das Urteil: Dazu gehört zum Beispiel die bedingungslose Demutsgeste des Angeklagten gegenüber dem Gericht. Wer diese Regel bricht, verliert mehr als einen Prozeß: Er verliert seine Privatheit.
Der Angeklagte Wolfram G. hat ein Geheimnis. „Über meine Probleme will ich hier nicht sprechen“, läßt er Amtsrichterin Verena Timke wissen, als die ihn nach seinen persönlichen Verhältnissen fragt. Der Gerichtssaal ist proppenvoll mit Schülern, die einmal hautnah Gerichtsalltag geboten bekommen sollen.
Zweifelsohne: G. ist Alkoholiker, aber er gibt es nicht zu. Ist soviel Renitenz zu fassen? Doch da ist mehr. G. ist im Heim groß geworden. „War das Heim gut?“, will die Richterin wissen. „Kein Heim ist gut“, antwortet G. „Sicher fühlten Sie sich zurückgesetzt?“ — „Sicher.“ Doch da ist mehr. Vor sechs Jahren hat G. eine Tischlerlehre abgebrochen. Liegt da eine Spur? „Warum haben Sie abgebrochen?“, will die Richterin wissen. „Ich hatte Probleme.“ „Welche?“ — „Darüber will ich nicht reden, das geht Sie nichts an.“ „Was haben Sie seitdem gemacht?“ — „Nichts.“
Vorbestraft ist der Angeklagte auch. Drei Monate Haft wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe. Der Prozeß lief nach seiner Ausmusterung. „Was war da los?“ will die Richterin wissen. „Alkohol“, ist die Antwort, aber da ist mehr. Weiß die Richterin es schon, oder tappt sie im Dunkeln?
Wolfram G. soll bei den letzten Silvesterkrawallen auf der Sielwall-Kreuzung mit einer leeren Sektflasche nach Beamten der Polizei und des Bundesgrenzschutzes geworfen haben. Er erklärt, daß er wegen Vollrausch einen „Filmriß“ gehabt habe. Zwei Polizisten identifizieren ihn aber, und geben auch an, daß er nicht betrunken gewesen sei. Die Anklage lautet auf „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“, der Wurf mit der Flasche wiege, so erklärt die Staatsanwaltschaft, „besonders schwer, weil G. die Verletzung eines Menschen billigend in Kauf genommen habe.“ Doch da ist mehr.
Ein Strafbefehl wegen Schwarzfahrens. Nicht der erste, wie die Richterin aus dem Strafregister ersieht, also ist er hier „einschlägig vorbestraft“. Alles in allem werden es sechs Monate und zwei Wochen auf Bewährung. Richterin Timke legt dem Angeklagten nahe, seine Probleme jetzt endlich mal in die Hand zu nehmen. „Seit sechs Jahren tut sich nichts bei Ihnen“, der Angeklagte wirkt nur genervt.
Die Zuschauer, die Richterin, das Geheimnis: Als das Urteil schon verkündet ist, holt die Richterin aus: „Wenn ich Ihnen das noch mit auf den Weg geben darf: Homosexualität ist heute kein Tabu mehr, da kann man doch drüber reden.“ mad
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