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JÜRGEN BECKER

1965 sind die ersten Gedichte von Jürgen Becker entstanden, ein Jahr nach seinem fulminanten Entree in die deutsche Literatur mit dem experimentellen Prosaband „Felder“. Seither hat er — über einen Zeitraum von 26 Jahren — beharrlich ein konsequentes, vielschichtiges poetisches Werk geschaffen. Dessen Einzigartigkeit im deutschen Sprachraum beruht auf einer Ästhetik der Wahrnehmung, die eigene Biographie, Geschichte und Politik verklammert.

Becker verbrachte einen Teil seiner Kindheit und Jugend in Erfurt (1939-1947), kehrte aber 1950 in seinen Geburtsort Köln zurück. Seither ist er dieser Stadt, der niederrheinischen Landschaft, der Eifel treu geblieben. Die Farben dieser Landschaft, ihre Jahreszeiten, ihre fortschreitende Zerstörung sind in vielen Gedichten gegenwärtig. Fast immer ist ihr Ausgangspunkt eine punktuelle Wahrnehmung — Schneefall, eine Straßenszene, aufglühende Zigaretten im Fenster. Dieser „festgehaltene Augenblick“ wird „zum Arbeitsbeginn der Erinnerung“. Ein Schreibprozeß setzt ein, der sich allmählich, ohne feste Methode, fast automatisch entfaltet und verzweigt, mit scharfem Auge, hellwachem Ohr und einem Arsenal von Erinnerungen, das in die eigene Kindheit im Krieg und in die Nachkriegszeit zurückgreift. Das fast beiläufige, prosanahe Sprechen, das sich unterbricht, aufgeschnappte Dialogfetzen hereinholt, Reflexionen einschiebt, sich selbst kommentiert und dabei immer neue Richtungen einschlägt, wird in seiner kunstvollen Montagetechnik in Beckers langen Gedichten am deutlichsten. Sie hier abzudrucken, fehlt der Platz. Auch die kürzeren Gedichte reihen punktuelle Beobachtungen aneinander. Daß sie dennoch Welten vom „Alltagsgedicht“ oder der „neuen Subjektivität“ trennen, liegt an Beckers Vermögen, die wahrgenommenen Geschehnisse und Erscheinungen sprachlich zu „sur-realisieren“. Er steuert die Wörter in den Bereich der Imagination. Die wirkliche Welt und die imaginierte Welt (das Ans-Licht-Bringen von Vergessenem, Verschüttetem, Unsichtbarem) sind für Becker potentiell identisch. Sein Grundton ist Skepsis. Man könnte auch sagen: eine spezifisch rheinische Melancholie, die traurig ist, still und zugleich hell, da gefaßt. Der Krieg ist immer noch nicht vorbei, die Vergangenheit hat sich in die Gegenwart gefressen, doch hält diese Gegenwart, trotz aller Verstörungen, auch Augenblicke bereit, die zum von Sehnsucht bestimmten Vorgriff auf einen neuen „Entwurf einer Landschaft“ werden. Joachim Sartorius

Bibliographischer Kurzhinweis: In den letzten Jahren sind die Gedichtbände „Odenthals Küste“ (1986), „Das Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ (1988) und „Das englische Fenster“ (1990) erschienen. Ein Wechselgespräch mit Bildern von Rango Bohne führen die Stimmen in „Frauen mit dem Rücken zum Betrachter“ (1989). Über Jürgen Becker informiert ein von Leo Kreutzer herausgegebener Materialienband (Frankfurt, 1972).

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