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SÜCHTIG NACH SCHNELLEM GLÜCK

■ "Cariocas" schwärmen nicht nur für Sonne und Meer, sondern erliegen auch dem unwiderstehlichen Reiz des Verbotenen

„Cariocas“ schwärmen nicht nur für Sonne und Meer, sondern erliegen

auch dem unwiderstehlichen Reiz des Verbotenen

VONASTRIDPRANGE

Rio de Janeiro. Nackt am Strand in Rio de Janeiro? Niemals! Wenn sie es auch nur wagt, sich „oben ohne“ zu bräunen, riskiert sie, von wütenden Brasilianern mit Sand beworfen zu werden. Aber halt: Ist Rio nicht die Stadt der Travestie, der Prostituierten, der Verbrecher und Glücksspieler, kurzum ein einziger Sündenpfuhl? Das hartnäckige Klischee hat sich nicht ganz zu Unrecht herausgebildet. Doch es mißachtet den bestechenden Charme, mit dem die „Cariocas“, wie sich die Einwohner der Stadt am Zuckerhut nennen, die Gesetze übertreten.

Die außerordentliche Lust, sich über die Regeln des täglichen Zusammenlebens mit der größten Selbstverständlichkeit hinwegzusetzen, gehört zum ansteckenden Wesen des lebensfrohen und freundlichen Cariocas. Trotz Tausender Verbote ist in Rio nichts verboten — wenn man die heimlichen Umwege kennt. Wichtig ist: Der Schein muß gewahrt bleiben. Warum „oben ohne“, wenn ein winziges Bikinioberteil, von einem seidenen Faden zusammengehalten, mehr erahnen läßt, ja die männliche Phantasie stimuliert?

Nehmen wir zum Beispiel die Tierlotterie, genannt „Jogo do Bicho“. Obwohl sie gesetzlich verboten ist, existiert sie nun schon seit einhundert Jahren. Ohne das Geld der Tierlotto-Bosse gäbe es weder Karneval noch Fußball. Dreimal am Tag, wenn die Gewinner gezogen werden, verwandelt sich ganz Rio in ein einziges Casino: Die Spieler lassen die Arbeit links liegen, rennen auf die Straße und bangen beim „Bicheiro“ um die Ecke um ihr Glück. Wertvolle Tips geben die unzähligen selbsternannten Parkwächter, die sich in Rio dadurch auszeichnen, daß sie das Auto nur dann nicht beschädigen, wenn sie vorab bezahlt werden: „Schon mal aufs Nummernschild gesetzt? In Kombination mit dem Affen gibt es heute große Gewinnchancen!“

Der kleine Glaube ans große Glück, „fezinha“, wie es die Brasilianer nennen, zirkuliert nicht nur in den Adern der Lottospieler. Die „Cariocas“ sind bei ihren Landsleuten dafür verschrien, überall zum eigenen Vorteil zu handeln. Die Uhren der Taxifahrer ticken in Rio schneller als anderswo in Brasilien, die Kellner verrechnen sich nirgendwo so häufig zuungunsten der Kunden wie an der Copacabana. Die in Rio erscheinende Zeitung 'Jornal do Brasil‘ veröffentlichte jüngst sogar eine „Sündentabelle“: Danach sind 82 Prozent der „Cariocas“ süchtig nach einem Einsatz beim „Jogo do Bicho“, die Hälfte der Einwohner der Stadt tauschen im Supermarkt die Preisschilder, wenn sie ein Produkt zu teuer finden, 49 Prozent fahren bei Rot über die Ampel, ein Drittel drängelt sich ständig vor, und 39 Prozent fehlen zuweilen bei der Arbeit, weil sie sich am Strand sonnen.

Glücksgefühle ganz besonderer Art entstehen, wenn ein Geschäft einmal für beide Seiten vorteilhaft ist. So kann sich zum Beispiel der Preis für eine Taxifahrt ganz erheblich verringern, wenn der Kunde dem Fahrer gestattet, zwischendurch ganz schnell einkaufen zu gehen, wenn er zufällig an einem Geschäft mit einmaligen Sonderangeboten vorbeikommt. Bei einer monatlichen Inflation von 20 Prozent kann die Bedeutung dieser einmaligen Supersonderangebote gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Frauen können die zumeist männlichen Taxifahrer herausfordern, wenn diese wieder einmal im Stau über „Frauen am Steuer“ lästern. Der Autorin ist es gelungen, sich zum ermäßigten Preis selbst nach Hause zu fahren. Und das ohne den Führerschein dabei zu haben!

Leider hat die zunehmende Armut in ganz Brasilien dazu geführt, daß auch im einst heiteren Rio („Rio“ heißt auf portugiesisch nicht nur „Fluß“, sondern auch „ich lache“) das Klima etwas unwirtlicher geworden ist. Ein Drittel der rund sechs Millionen Einwohner wohnt bereits in Elendsvierteln, genannt Favelas, die wie Bienenwaben an den grünen Hügeln der Stadt kleben. Die Not macht erfinderisch. Viele Favelados haben inzwischen entdeckt, daß sie die Einnahmen ihrer Gemeinden vergrößern können, wenn sie neugierigen Touristen Einblick in ihre Elendsviertel gewähren (siehe dazu Bericht „Abenteuer Armut“).

Die Grenzen zwischen „oben“ und „unten“ verwischen sich zunehmend: Der Kontakt der Hügelbewohner mit der Mittel- und Oberschicht beschränkt sich nicht mehr auf den Verkauf von „Stoff“. Die jungen Surfer aus der Favela zeigen den Jungens vom Asphalt zum Beispiel, wie man auf einer Welle reitet. Die Einwohner von „Rocinha“, der größten Favela Lateinamerikas, vermieten komfortable Wohnungen in vierstöckigen Häusern an die verarmte Mittelschicht, die sich die Mieten auf dem Asphalt nicht mehr leisten kann. Charakteristisch für Rio ist, daß man den Weg zwischen zwei Welten im Fahrstuhl zurücklegen kann. Der Aufzug ins Elendsviertel „Cantagalo“ verbindet zum Beispiel die Schule auf dem Hügel, wo auch Kinder vom „Asphalt“ unterrichtet werden, in Sekundenschnelle mit dem vornehmen Stadtteil „Ipanema“.

„Copacabana“, Brasiliens berühmtester Stadtteil, der 1992 sein hundertjähriges Jubiläum feiert, wurde von der seit den achtziger Jahren zunehmenden Armut am schlimmsten getroffen. Als Rio noch die Hauptstadt von Brasilien war, wohnte an dem Viertel entlang des vier Kilometer langen Sandstrandes die Elite des Landes, Präsident, Gouverneur, Zeitungsverleger, Militärs und Intellektuelle. Heute ist der Glitter des ehemaligen brasilianischen Hollywoods verflogen. Straßenkinder und Bettler betäuben sich im Schatten der Kokospalmen mit dem Inhalieren von Klebstoff. Aus Angst vor den häufigen Raubüberfällen kehrten in den letzten zwanzig Jahren über 10.000 Einwohner dem Viertel den Rücken zu, und die amerikanische Botschaft sah davon ab, ihre Angestellten an der Strandpromenade „Avenida Atlantica“ einzuquartieren.

Dennoch beharrt die Mehrheit der rund 600.000 „Copacabaner“ auf ihrer Leidenschaft zur verlassenen Meeresprinzessin. Die Rentner sind am fanatischsten: Sobald die Sonne aufgeht und bevor die Straßenkinder aus ihren Pappkartons kriechen, treffen sie sich bereits zum Frühsport am Strand. Anthropologen, Künstler und Architekten staunen über das einigermaßen friedliche Miteinander von Menschen aller Klassen und Rassen auf knapp sechs Quadratkilometern. Tagsüber verwandeln Heerscharen von Straßenhändlern den Stadtteil in einen riesigen Basar, nachts buhlen Travestie und Prostituierte um die Gunst der Kunden. Kellner und Angestellte der großen Hotels spielen nach Feierabend bis spät in die Nacht hinein bei Flutlicht Fußball am Strand.

Ach ja, der brasilianische Fußball ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Nicht nur Copacabana, ganz Rio sei dekadent, klagen die ewigen Kritiker. Doch der Stadt tut dies keinen Abbruch. Noch immer bewundern seine Besucher die atemberaubende Aussicht vom Zuckerhut, noch immer schleppt sich die bis auf den letzten Platz belegte Zahnradbahn durch den Nationalpark „Floresta da Tijuca“ zum „Corcovado“ hinauf. Noch immer kreisen die Drachenflieger über dem Strand von Sao Conrado und nehmen mutige Touristen im Huckepack mit. Im Neubauviertel „Barra“, eine Bucht weiter, wird zur Zeit die Weltmeisterschaft im Surfen ausgetragen. Auch die Schönheiten, die auf dem Weg zum Strand „ihren goldenen Körper hin- und herwiegen“, wie es einst der brasilianische Dichter und Diplomat Vinicius de Moraes in seinem Lied Girl from Ipanema beschrieb, gibt es noch. Sie treffen sich jetzt an der Snackbar „Barraca do Pepé“, am Strand von „Barra“.

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