■ DIE PREDIGTKRITIK: Gerade und Krumme
Gerade in der Vorweihnachtszeit fiel unser Blick in die Spalte Kirchensteuer auf der Gehaltsabrechnung besonders kritisch aus: Da leistet man sich den Luxus, noch immer Mitglied einer Konfession zu sein, um dann festzustellen, daß sich die katholische Kirche erdreistet, mit diesem unseren Geld die 'Super-Illu‘ zu sponsern.
Hier floß mal wieder der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Fest entschlossen, alle Austrittsformalitäten sofort in Angriff zu nehmen, kommt uns die Kirche schon wieder zuvor und zieht sich aus diesem journalistischen Tiefschlag-Unternehmen zurück. Also doch standhalten? —
Denn gerade jetzt, nach 40 Jahren Sozialismus, braucht die Kirche Geld: das eine Haus Gottes steht kurz vor dem Einsturz, und auch dem Hedwigsdom könnte ein frischer Anstrich nicht schaden: klogrün sind die Wände jetzt, was den Besucher mehr als nötig bibbern läßt. Dabei heizen sie sichtbar — aus Gittern auf dem Boden. Der geballte Warmluftstrom läßt nicht nur die Lampen wackeln, sondern pustet auch den älteren Damen den Mantel bis über die Kniekehlen, was diese verständlicherweise geniert.
Zu unserer weiteren Erbauung tritt am zweiten Adventssonntag der Mädchenchor der Gemeinde mit vorweihnachtlichen Liedern samt orchestraler Untermalung an. Bloß einen Tannenbaum haben sie nicht im Dom, obwohl dafür die satte Steuermehreinnahme vom Dezember doch reichen sollte. Vielleicht kommt er ja noch, denn noch ist es nicht soweit, wie wir im Evangelium erfahren: Noch geht es darum, Jesus den Weg zu bereiten: »Was krumm ist, soll gerade werden.«
Dieses Motto pflegt der Geistliche auch in seiner Predigt, die einer Bibel-Nachhilfestunde gleicht. Wenn Lukas sein Evangelium beginne »Es war im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius«, dann bedeute das: die Bibel ist kein Märchen, sondern die Chronik historischer Ereignisse. »Damals«, so der Geistliche weiter, »war Palästina ein unterjochtes Land.« Von heute kein Wort. Und es begab sich, daß der Engel dem Priester Zacharias erschien, um ihm anzukündigen, er werde trotz seines hohen Alters noch ein Kind haben: Johannes, den Täufer. Der rief dann in der Wüste zur Umkehr und Taufe auf. Allerdings hatte er keine Botschaft, er war nur die Stimme: »Bereitet dem Herrn den Weg.« Johannes nur war der Vorläufer Jesu und nahm sich selber zurück. Das sollen wir, bitte schön, auch tun und uns selber überprüfen, ob wir auf dem richtigen Weg sind, gerade jetzt im Advent. Das Entscheidende können wir aber nicht tun: Nur Jesus kann Berge versetzen. Mein Gott, so traditionell habe ich die Bibel ja schon lange nicht mehr interpretiert bekommen. Abwarten reicht — auf die Vergebung und natürlich auf Jesus. Aber jetzt wieder aufgepaßt: »Der ist ständig dabei, in unserem Leben anzukommen.« Diese Formulierung muß man sich auf der Zunge zergehen lassen — als wäre einer ständig am Kartoffelschälen. Und wenn er dann kommt, soll ich ihn nicht übersehen.
Erst mal kommt jetzt aber ein Hilfsgeistlicher mit dem Klingelkorb vorbei, den er mir mit unmißverständlicher Geste unter die Nase hält. Das habe ich früher als Meßdiener auch immer getan, denn je mehr drin war, um so weniger fiel es auf, wenn anschließend 'ne Mark für 'ne Cola fehlte. Erst heute begreife ich, daß es dabei gar nicht um das Geld, sondern um die Geste, das Opfer, geht, was die Mark für die Cola im nachhinein zu einer kleineren Sünde macht. Oder habe ich das schon wieder falsch verstanden, frage ich mich beim Blick auf die Spalte Kirchensteuer...? Lutz Ehrlich
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