: Tango! Tango! Tango! Tango!
■ Das »Sextetto Major« entzückte 600 Zuhörer in der Kreuzberger Passionskirche
Sechs Männer stehen auf der Bühne. Musiker. Anfang sechzig und in grauen Anzügen. Man hat das unbestimmte Gefühl, einer Gangsterbande gegenüberzusitzen. Schon mit den ersten Tönen sind die sechshundert Zuschauer in der Kreuzberger Passionskirche in ihrem Bann. Sie spielen mit den Tönen, werfen sie sich zu, verzögern, schmeicheln — um dann plötzlich eine Tiefe in ihrem Spiel zu finden, daß man sich fühlt wie in einem stürzenden Fahrstuhl. Das ist der Tango, gespielt von einer der besten Gruppen, die es derzeit gibt.
Seit 18 Jahren spielt das Sextetto Major auf den Bühnen der Welt. Die ersten Jahre in ihrer Heimat, in Argentinien, und Lateinamerika. 1981 debütierten sie in Paris im »Trottoirs de Buenos Aires«. Mittlerweile war die Renaissance des »Tango Argentino« in Europa voll im Gange. Vor allem die Jüngeren liebten hier den Tango, der in seinem Heimatland mehr und mehr zu einer Sache der Alten wurde. Auf ihrer anschließenden Europareise spielten sie sich in die Herzen der europäischen Tangojünger, auch in Deutschland. Regelmäßig zieht es sie seitdem auf den alten Kontinent. Die Sechs, Luis Stazo und José Libertella (Bandoneon und Arrangement), Mario Ambramovich und Eduardo Walczak (Violine), Kicho Diaz (Baß) und Oscar Palermo (Piano) kommen ohne Dirigenten aus. Ihr Dirigent ist die Musik selbst. Sie fühlen den Tango, den sie spielen, und es überträgt sich auf die Zuhörer, die mit gebannter Aufmerksamkeit der Tonzauberei auf der Bühne lauschen. Einen der Sechs besonders hervorzuheben fällt schwer. Vielleicht Mario Ambramovich mit seiner Violine. In der sphärischen Akkustik des Kirchenraums klingt sie unbeschreiblich schön. Aber auch die beiden Bandoneros lassen ihre Instrumente singen. Diese »Handorgel«, die wie ein Akkordeon funktioniert, im Gegensatz zu diesem aber ein Einzeltoninstrument ist, scheint einen eigenen Atem zu haben. Da wechseln zerbrechliche, sanft verklingende Töne mit extremen Crescendi. Sie weinen den Tango. Und der beschreibt das Leben.
Der Tango entstand in den zwanziger Jahren in den Vorstädten von Buenos Aires. Sein Ursprung ist unklar. Fest steht, daß er eine Mischung aus verschiedenen Rhythmen, zum Teil auch afrikanischen ist, die sich damals am Rio de la Plata ablösten. Er wurde zum Ausdruck der Heimatlosigkeit der Emigranten, die in jener Zeit nach Argentinien strömten. Sie fanden im Tango ihre Sehnsucht wieder und konnten sich ihr ergeben. Der Fatalismus, der in seinen Tönen mitschwingt, ist zum Wesensmerkmal der Bewohner von Buenos Aires geworden. Er bringt diesen Trotz in die Musik, der sich von keiner Katastrophe unterkriegen läßt. Das ist es wohl auch, was uns Deutsche, mit unserem sprichwörtlichen Hang zur Melancholie, so anspricht. Wer von uns kennt nicht das Gefühl, etwas Wesentliches im seinem Leben verloren zu haben? Im Tango findet man es wieder.
Diese Seite bringen die Sechs mit unglaublicher Virtuosität zum Klingen. Dabei mischen sie ihr Konzert mit Entertainer-Einlagen, bei denen sie nicht davor zurückschrecken, die Vorzüge der schönen Stadt Köln zu loben; dort nämlich wurde ihre neue CD aufgenommen, die man selbstverständlich in der Pause erstehen kann. Das Publikum liebt sie trotzdem oder vielleicht gerade wegen dieser Mischung aus Trivialität, Sentimentalität und existentieller Tiefe.
Zwei nagelneue Bandoneons werden mit dem letzten Lied vor der Pause eingeweiht. Gebaut hat sie der anwesende legendäre Instrumentenbauer Klaus Gutjahr, der zu dieser Gelegenheit gebührend abgefeiert wird. Das Pausen-Lied: Adios los Ninos von Astor Piazolla — dem vielleicht besten Bandoneonspieler aller Zeiten —, der im letzten Jahr einen Schlaganfall erlitt und seitdem in Paris im Krankenhaus liegt. (Eine Anekdote besagt, der Meister sei aus dem Koma erwacht, als irgendwo in der Stadt ein mieser Bandoneonspieler auftrat!)
Selbst die Anwesenheit des argentinischen Botschafters und des chilenischen Konsuls kann die Zuhörer in ihrer Begeisterung nicht erschüttern. Donnernder, minutenlanger Schlußapplaus, nur unterbrochen von vielen Zugaben, beschloß einen großartigen Abend. Ralf Berger
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