: Kaufhaus des Ostens
Russisch/sowjetische Avantgardekunst: Bericht von einer unmöglichen Ausstellung ■ Von Piotr Olszowka
Die Namen der Künstler, deren Arbeiten ausgesstellt werden, rauben einem den Atem. Leider aber tut es die Ausstellung auf eigene Weise: die Luft ist raus. Die prominenten und hochkompetenten Organisatoren konnten sich mit dem Leihgeber nicht einigen, ob das eine Ausstellung der „Russischen Avantgarde und Bühne 1890-1930“ (in sich schon ein sehr großzügiger Zeitrahmen) oder noch weiter gefaßt von 1880-1930 sein sollte, wie es Nikita Lobanov-Rostovsky — „der großmächtige Leihgeber“ — in seinem merkwürdigen Katalogbeitrag schreibt. Im Katalog, der einen der besten Aufsätze von John E. Bowlt über das russische Theater der Zeit um die Revolution enthält, gibt es darüber hinaus viele Eigenartigkeiten, wie etwa der künstlerische Stammbaum der russischen Avantgarde. Die Ausstellung selbst ist von beispielloser Konzeptionslosigkeit. Oder einfach verlogen: Die Ausstellungsmacher behaupten eine Konzeption zu haben, in Wahrheit gibt es aber nur die des Leihgebers. Eine Konzeption nach dem Pfauenprinzip: alles zeigen, was man draufhat. Die Herren Wissenschaftler haben dagegen eine des Vogel-Strauß und nehmen einfach alles hin, was ihnen angeboten wird. Von Bakst bis Lissitzky. Vom Plakat bis zu einem (Gospodi pomyluj!) Bühnennachbau. Erstmals werden alle Stilrichtungen vorgestellt, die in dem halben Jahrhundert im Mütterchen Rußland aufgetreten sind, dann der Reihe nach alles schön gruppiert, und zwar nach dem Prinzip: hier Zirkus, da Varieté, einerseits Oper, andererseits dramatisches Theater. Die Idee, das Material nach den Theatergattungen aufzuteilen, erweist sich als völlig unpraktikabel, weil das Gattungskriterium, welches das Geschehen auf der Bühne erfaßt, mit den Ordnungskriterien für die Objekte aus dem Bereich der bildenden Künste nichts zu tun hat. Dadurch muß der Ausstellungsbesucher nicht nur das historische Kriterium (1880/90-1930) und das Stilkriterium (Protoavantgarde/Avantgarde, Primitivismus, Konstruktivismus, Suprematismus, Lutschismus, Kubismus und v.a.m.) verarbeiten, sondern hat außerdem die diversen Gattungen der bildenden Kunst (Plakat, Kostüm-, Bühnenbild-, Figurinenentwurf, Rekonstruktion des Bühnenbildes) sowie die verschiedenen Bühnengattungen (Zirkus, Varieté, Ballett, Schauspiel etc.) zu absolvieren.
Eine Minivorausstellung verhilft zu einer Art „Kurzlehrgang“ durch 50 Jahre Stilgeschichte russischer Kunst, bei dem eine Reihe beispielhafter Arbeiten der verschiedensten Richtungen gezeigt werden; doch das hilft wenig, weil das, was geordnet werden sollte, ins Chaotische zurückgemischt wird. Ein Malström der hervorragenden Arbeiten, der erstklassigen Namen, von denen bald die Hälfte mit der Avantgarde nichts am Hut hatte. Prompt werden sie Protoavantgarde, auf gut Deutsch: Avantavantgarde getauft und treffen dadurch ins schwarze (Loch) der Ausstellungskonzeption.
Es ist richtig und kann nicht zu oft wiederholt werden, daß die russische Avantgarde nach der Revolution eine Fortsetzung dessen war, was die Kubofuturisten, Konstruktivisten, was Malevic, Tatlin, Popova und andere viele Jahre früher angefangen hatten. Zuerst ging ein Kode zugrunde, und ein neuer wurde geboren und ausgearbeitet, und dann erst kam die „Revolution“. (Jetzt darf man sogar in Deutschland schreiben, daß es keine war — im Februar 1917 gab es eine, aber sie wurde vom Staatsstreich Lenins hinweggefegt).
Der neue Kode wurde früher entwickelt als die Ordnung, die sich ihn — für eine sehr kurze Zeit — angeeignet hat. Viele Künstler haben die bolschewistische Revolution enthusiastisch aufgenommen und sich ihr angeschlossen. Dann wurden sie allmählich als Avantgardekünstler eliminiert — entweder physisch oder indem sie zur neuen „revolutionären“ Kunst des sogenannten sozialistischen Realismus, einer Hofkunst der bolschewistischen Diktatur, „umerzogen“ wurden. Statt des ehrlichen Enthusiasmus des Neuanfangs ein verlogenes Handwerk, dessen monströse krebsartige Auswüchse heute noch in Nordkorea zu bewundern sind. Die Kunst, die aus heutiger Sicht sehr oft fälschlicherweise als ein Kind der Oktoberrevolution angesehen wird, war also vielmehr eine Vorausahnung des Umbruchs in Rußland, der aber — als Befreiung von der Despotie — scheiterte.
Eigentlich sollte man also nicht so wählerisch sein und sich über eine so hochkarätige Ausstellung aufrichtig freuen. Leider — für die Organisatoren — sind in diesem Jahr im deutschsprachigen Raum so viele und teilweise so gute Ausstellungen zum Themenkreis russische/sowjetische Kunst der Avantgarde gezeigt worden, die den Maßstab derart hochgesetzt haben, daß es nicht mehr akzeptabel ist, eine vanity fair zu beklatschen, die wegen der ungeheuren Qualität der einzelnen Werke um so irritierender ist: sie quatscht, ohne etwas Wichtiges zu sagen. Es finden sich dort wunderschöne Objekte, die durchaus mit denen im Moskauer Theater-Museum (Bachrjusyn-Museum) vergleichbar sind, jedoch keinen richtigen Zusammenhang vorweisen, außer daß sie alle einer ziemlich lang angelegten Periode des russischen Theaters zuzuordnen sind. Vor einigen Jahren wäre das eine ausreichende Begründung gewesen, eine Ausstellung in Deutschland zu organisieren, ja sogar sie zu loben. Doch inzwischen muß diese Schau die Konkurrenz mit mehreren erstklassigen Ausstellungen aushalten. Die wichtigste war die Gustav-Klucis-Retrospektive in Kassel, eine besondere Erscheinung auf dem Karussel der deutschen Ausstellungskunst: in jeder Hinsicht vollkommen. Fundierte Kenntnisse der Kunst, des Lebens, des politischen und sozialen Kontextes, in dem der Künstler agierte; fantastisch rekonstruierte dreidimensionale Objekte; eine den Zuschauer mitreißende Aufteilung in historisch und künstlerisch bedingte Bereiche, ja Teilausstellungen, wobei die tragische Geschichte des Stalinschen Betruges und Verbrechens in seiner Bedeutung für das Curriculum Klucis dem Ausstellungsbesucher sehr überzeugend präsentiert worden ist. Die Idee, gleichzeitig eine Retrospektive von Laszlo Moholy-Nagy zu zeigen, einfach genial! Zwei Lehrmeister der sich zu gleicher Zeit entfaltenden Schulen; zwei Persönlichkeiten aus den Periferien der Imperien (Lettland bzw. Ungarn); zwei Künstler, die ähnlich gemalt haben: die Analogien zwischen einigen Bildern der beiden Künstler sind erstaunlich, wobei die Schwerpunkte ganz anders verteilt sind; zwei Menschen, die so unterschiedliche Wege nach dem — von der Willkür der Totalitarismen bewirkten — Ende ihrer Schulen gegangen sind. Hier zeigt sich, wie Professionalismus mit der Liebe zum Sujet zu vereinbaren ist.
Die Klucis-Ausstellung in Kassel wurde einem im Westen weitgehend unbekannten Künstler gewidmet. Sie hat beispielhaft sein Werk und seine Persönlichkeit vorgeführt, vor allem aber ein Schicksal, das stellvertretend für viele Künstler der sowjetischen Avantgarde steht. Die Kombination der Klucis- und der Moholy- Nagy-Retrospektive im Museum Fridericianum war eine sehr produktive Idee, die gleichzeitig eine Verbindung zwischen dem Bauhaus und den Vchutemas in Moskau geschaffen hat. Dieser Vergleich ist in vielerlei Hinsicht längst fällig gewesen; wünschenswert wäre seine praktische Illustration in Form einer großen Ausstellung, die die beiden Schulen und ihre Leistungen gegenüberstellen und kritisch betrachten lassen würde. Ob es jemals zur Realisierung dieses seit Jahrzehnten erwogenenen, vorbereiteten, verworfenen und wieder aufgenommenen Projektes kommt, ist ungewiß. Immer wieder stellten und stellen sich Hindernisse in den Weg zur Verwirklichung dieser Idee, die dem Begründer des Bauhaus-Archivs, Hans-Maria Wingler, so wichtig war: die beiden Schulen, die beiden niedergeknüppelten Utopien in einem gemeinsamen Projekt zu würdigen. Nicht nur die Leistungen und Persönlichkeiten, nicht nur die Folgen der pädagogischen und künstlerischen Entdeckungen und In-Frage- Stellungen des Bauhauses und der Vchutemas sind für ihre Nachfahren so faszinierend. Schließlich scheinen — bei allen inneren Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen – diese utopischen Phänomena, die sonst wahrscheinlich eher früher als später gescheitert wären, durch eine gewaltsame Unterbrechung für immer jung und siegreich geblieben. Die Illusion einer realisierbaren künstlerischen Utopie verdanken wir paradoxerweise zur Hälfte deren Henkern.
Die Ausstellung Die russische Avantgarde und die Bühne 1890-1930 ist noch bis zum 11. Januar im Saarland Museum Saarbrücken und vom 18. Januar bis zum 15. März 1992 in der Kunsthalle Tübingen zu sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen