: „Ein schier unglaubliches Potential“
Die TurnerInnen aus der Sowjetunion und Rumänien waren beim DTB-Cup gewohnt überlegen — Die erstklassigen Trainingsmöglichkeiten sind trotz des politischen Umbruchs noch erhalten ■ Aus Stuttgart Thomas Schreyer
Es ist schon verdammt schwer, sich an die bislang unbeachtet gebliebenen geografischen Realitäten zu gewöhnen. Welche Russen denn hier seien, war wohl die beim 9. Internationalen DTB-Pokal am meisten gestellte Frage. Weit und breit wurde aber kein einziger Russe oder auch eine Russin gesichtet. Die AthletInnen aus der ehemaligen Sowjetunion kamen aus der Ukraine, aus Tadschikistan und Weißrußland und trafen sich zu einem „historischen Ereignis“: Zum letzten Mal, was das Stuttgarter Pokalturnier betrifft, traten sie gemeinsam unter der Flagge eines nicht mehr existierenden Reiches an, das nur noch pro forma bis zu den Olympischen Sommerspielen in Barcelona weiterbesteht.
Den sportlichen Leistungen tut die Auflösung der Sowjetunion vorerst noch keinen Abbruch. Weltklasseleistungen waren sowohl bei dem Weißrussen Vitali Scherbo als auch bei dem Tadschikistaner Rustam Scharipov und der Ukrainerin Tatiana Gutsu zu bewundern. „Die turnen hier bestimmt nur 60 Prozent ihrer Möglichkeiten“, staunte Ex-Ringeweltmeister Andreas Aguilar. „Anders kann ich mir diese schier unbeschreibliche Sicherheit kaum vorstellen.“ Wenn eine Übung so mühelos aussieht, wenn Schraubensaltos über dem Schwebebalken in atemberaubender Perfektion geturnt, neue Kombinationselemente am Barren hingezaubert werden und Flugelemente am Reck nahezu risikolos aussehen, „dann muß“, so ahnt Andreas Aguilar, „noch ein unheimliches Potential nach oben möglich sein“.
Scherbo, der Sieger des Turniers, gab auch zu, daß die Trainingsbedingungen nach wie vor „unverändert gut“ seien. Der Weißrusse trainiert im Leistungszentrum „Krugloe Ozero“ bei Moskau. Als er vor vier Wochen von seinem bevorstehenden Einsatz in Stuttgart erfuhr, sprang er vor Freude im Dreieck. Bei den AthletInnen hat sich längst herumgesprochen, daß bei dem vom Schwäbischen Turnerbund organisierten Turnier auch das „Umfeld“, das Rahmenprogramm, stimmt. Ein fast erholsamer Aufenthalt, bei dem es seit zwei Jahren nun auch Devisen zu gewinnen gibt.
Wieviel Scherbo von den für den ersten Platz gewonnenen 10.000 DM erhalten wird, wußte er nicht. Sicher ist nur, daß die im Namen der UdSSR startenden AthletInnen Geld auf die Hand bekommen — und zwar nicht in weichen Rubeln, sondern in harten Dollars oder Deutschmark. Die eigentliche Triebfeder, gut zu turnen, ist das sicherlich nicht. Scherbo hätte auch gewonnen, wäre ihm keine müde Mark versprochen worden. Und Tatiana Gutsu hätte ihre — wenn auch geringen — „Nach-WM- Schwächen“ nicht besser verdecken können, wenn ein größerer Scheck ausgestellt worden wäre. Gutsu mußte sich nämlich von der Rumänin Lavinia Milosovici geschlagen geben. Die Rumänin, mehrfache Junioreneuropameisterin und Pferdesprungweltmeisterin 1991, zeigte eindrucksvoll, daß auch nach dem Ende der „Ära Ceausescu“ Top-Turnerinnen aus dem von lebensbedrohlicher Mißwirtschaft gezeichneten Balkanland auf die obersten Treppchen steigen können. Nach anfänglichen Auflösungserscheinungen des berühmten, einst von der Geheimpolizei „besetzten“ Turninternats von Deva, das nach dem Dezember- Putsch von 1989 erst nicht mehr bestehen sollte, scheint nun wieder voll funktionsfähig. Manche Turnerin hat schon gelernt zu sagen, daß „früher alles besser“ war.
Ob Trainer von „früher“ wieder eingesetzt werden, ist möglicherweise Ansichtssache. Aber der Händchenhalter der gerade 15jährigen Lavinia Milosovici wollte auf viele Fragen nicht eingehen, beantwortete sie nicht oder nur halb und betonte, daß Politik ihn überhaupt nicht interessiere. „Politik ist Politik, und Sport ist Sport.“ Derlei können die ZuschauerInnen nicht beobachten, freuen sich freilich über das nette Lächeln ihrer Stars und feiern ihre Helden wie ihre eigenen Kinder. Die Stimmung in der Stuttgarter Hanns-Martin-Schleyer-Halle lieferte die gewünschte Atmosphäre für Veranstalter und Aktive. Und das Publikum zeigte, wie in den vergangenen Jahren, trotz der nun auch in den Westen übergeschwappten rassistischen Welle keine Veränderungen in seinem objektiven Verhalten: kein nationalistisches Gehabe, obgleich die deutschen TurnerInnen beachtlich gut abgeschnitten haben und Applaus en masse für alle AthletInnen, gleich welcher Herkunft.
Männer: Barren: 1. Rustan Scharipow (UdSSR) 9,850, 2. Vitali Scherbo (UdSSR) und Andreas Wecker (SC Berlin) 9,775, 4. Ralf Büchner (TK Hannover) 9,725. Reck: 1. Vitali Scherbo 9,900, 2. Rustan Scharipow 9,800, 3. Lin Huaishan (China) 9,750, 4. Andreas Wecker 9,450, 6. Ralf Büchner 7,900. Boden: 1. Vitali Scherbo (UdSSR) 9,825 Punkte, 2. Ok You Youl (Korea) 9,750, 3. Zoltan Supola (Ungarn) 9,450. Pauschenpferd: 1. Lin Huaishan (China) 9,775, 2. Ralf Büchner (TK Hannover) 9,625 und Rustan Scharipow (UdSSR) 9,625. Ringe: 1. Andreas Wecker (SC Berlin) 9,900 Punkte, 2. Ralf Büchner (TK Hannover) 9,675, 3. Rustan Scharipow (UdSSR) 9,625. Pferd: 1. Ok You Youl (Korea) 9,687, 2. Witali Scherbo (UdSSR) 9,675, 3. Zoltan Supola (Ungarn) 9,537, 4. Maik Krahberg (SV Halle) 9,337.
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