: Tour d'Europe
■ Wachsende Todessehnsucht
Carlo D'Amico, Leichenbestatter im südlichen Lazium, fühlt sich selbst „keineswegs nur als Totenkärrner“: Wenn er sieht, daß „die Trauer der Witwe übermächtig zu werden droht, gar ein Selbstmord ins Haus stünde, dann nimmt er sich die Tränengeschüttelten schon mal beiseite: „Ich habe da eine Adresse“, raunt er ihnen zu. Dann steckt er der Witwe eine Visitenkarte, schwarz mit goldener Schrift, zu. „Mago Maestro Johannes“ steht drauf, darunter eine Reihe von Kürzeln, M. A. P. M. I, was für eine Seher- und Zauberervereinigung steht.
In dem Studio des Mago erfahren wir, daß der Mann als geradezu einmalige Größe gerühmt wird. In allen fünf Kontinenten sei er schon tätig gewesen, erzählt uns eine Angestellte aus Formia. Selbst dem russischen Präsidenten — oder war es der amerikanische? — soll er vor wichtigen Entscheidungen geholfen haben. Nur einer mosert — ein griesgrämiger ältlicher Carabinieri, der von einer dicken Strafakte über den Mann murmelt, die er mal von einem Staatsanwalt zum anderen habe transportieren müssen.
Der Mago ist ohne Zögern bereit, auch derlei Vorfälle zu besprechen: „Am Ende mußten sie zugeben, daß ich zu den verantwortungsbewußtesten Männern meines Gewerbes gehöre. Ich fühle mich nämlich verantwortlich für alle Seelen, die im Diesseits wie die im Jenseits.“ So sei er z.B. nicht bereit, in spiritistischen Sitzungen Fragen über Verbrechen zuzulassen, oder solche, die sich nach Schwachstellen politischer oder ökonomischer Gegner erkundigen. Allenfalls mal die verzweifelte Suche nach einem Goldschmuck, den die jüngst verblichene Oma verlegt hatte und von dem offenbar das Überleben der Familie abhing, hat er behandelt (leider vergeblich, obwohl er am Gewinn beteiligt werden sollte).
Von seinen Kunden sind gut drei Viertel Frauen, „aus allen Ständen, fast ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung“ — bei den restlichen 25 Prozent aber handelt es sich durchwegs und ohne Ausnahme um hochgestellte Männer, Rechtsanwälte, Steuerberater, Politiker, Geschäftsführer. Der Blick in die Zukunft, so Meister Johannes, sei bis vor zwei, drei Jahren eigentlich das fast ausschließliche Motiv für die Besuche gewesen; doch das habe sich in den letzten Jahren gewandelt: „Mehr als die Hälfte meiner Kunden, und keineswegs nur die Frauen, suchen heute Kontakte zu ihren Lieben im Jenseits.“ Könnte das vielleicht damit zusammenhängen, daß er ein immer engeres Netz von Leichenbestattern, wie unseren Carlo D'Amico aus Frosinone, um sich geschart hat? „Allenfalls partiell“ sagt Johannes, „die Menschen zeigen — und das beobachte nicht nur ich — seit einiger Zeit eine Affinität zum Tod, die geradezu unglaublich ist: Die Leute in den Seancen wollen nicht mehr wie früher wissen, ob ihr Mann, ihre Mutter, ihr Kind es dort gut hat. Sie wollen ganz genau herausbringen, wie es dort ist, ob man Schmerz empfindet, traurig ist, ob man Gesellschaft hat, Strafen erleidet.“ Manchmal, „wenn die Abgetretenen besonders schöne Arien über ihr Fortleben nach dem Tode singen“, muß der Meister höchstpersönlich bremsen: „Die Gefahr, daß die Leute sich die nächste Schlaftablettenschachtel greifen und dem Lieben nachzufolgen trachten, ist mir dann doch zu groß.“ Werner Raith
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