Unteilbares Unglück

Dieter Wellershoff „Blick auf einen fernen Berg“  ■ Von Michael Braun

Die dramatischen Lebenskrisen, in die Dieter Wellershoff seine Romanfiguren verstrickt, sind meist ausweglos. Aus der nur scheinbar stabilen Ordnung ihres Alltagslebens fallen seine Helden heraus und geraten in den Sog einer langsam sich anbahnenden Katastrophe, die sie zu verschlingen droht. Aus diesen existentiellen Zerreißproben gehen die Betroffenen meist als hoffnungslos Geschlagene hervor, die nie wieder zurückkehren können in die gesicherten Bahnen ihres Lebens. Der Kulminationspunkt all dieser fundamentalen Lebenskrisen ist bei Wellershoff so häufig der Tod, auf den sich seine tragischen Helden in fast zwanghafter Logik zubewegen. Im Roman Die Schönheit des Schimpansen (1977) signalisiert das leidenschaftliche Interesse des Protagonisten am Tibetanischen Totenbuch die tragische Richtung, die sein Leben nehmen wird. Klaus Jung, ein gescheiterter Student, der nach seiner Zwangsexmatrikulation von der Universität unaufhaltsam in ein soziales Abseits gerät, ermordet in einem Ausbruch lange aufgestauter Aggression eine Frau. Als unbewußten Ursprung der Mordtat legt Wellershoff die traumatischen Kindheitserfahrungen des Täters bloß, die ihn am Ende in die Selbstzerstörung, den Selbstmord treiben. Wie Klaus Jung ist auch Ulrich Vogtmann ein Todeskandidat, der maßlos ehrgeizige und erfolgssüchtige Unternehmer aus dem Roman Der Sieger nimmt alles (1983), der sich mit waghalsigen ökonomischen Projekten in den geschäftlichen Ruin manövriert. In die fiktive Figur dieses mittelständischen Unternehmers hatte Dieter Wellershoff die Züge seines Bruders Walter Wellershoff eingezeichnet, der selbst nach steiler Managerkarriere ein Opfer des kapitalistischen Konkurrenzkampfs geworden war. Die Entscheidung, seine fiktiven Romanfiguren sterben zu lassen, hat Wellershoff in einem Essay als „symbolisches Menschenopfer“ charakterisiert — als ein Opferritual, in dem den epischen Doubles und Alter egos des Autors jene Last an Katastrophen aufgebürdet wird, denen man selbst zu entgehen hoffte. Nun ist das modellhafte Durchspielen katastrophischer Lebensläufe an ein Ende gekommen, nun hat die traurige Wirklichkeit des Sterbens die literarische Fiktion eingeholt. Zum ersten Mal hat Dieter Wellershoff auf eine fiktionale Umarbeitung seiner lebenspraktischen Erfahrungen verzichtet und sich in einem autobiographischen Bericht an sein zentrales Lebensthema, den Tod, herangeschrieben. Wellershoffs neues Buch handelt vom Leukämie-Tod seines Bruders, von den entsetzlichen Erfahrungen eines Sterbenden, der trotz heftiger Gegenwehr von der tödlichen Krankheit vernichtet wird. Blick auf einen fernen Berg handelt aber auch vom Schuldgefühl des Überlebenden, der im lebenslangen Konkurrenzkampf mit dem Bruder nun als Sieger dasteht. Der Tod hat den stummen Wettbewerb zweier völlig unterschiedlicher Charaktere beendet, den zurückgezogen lebenden Schriftsteller über den erfolgshungrigen Manager triumphieren lassen.

Das Beunruhigende, Verstörende dieses Buches liegt nicht nur in der schmerzhaften Genauigkeit, mit der Wellershoff das lange, qualvolle Sterben rekonstruiert. Schonungslose Todesbücher dieser Art sind bereits in den siebziger Jahren geschrieben worden, von Fritz Zorn (Mars) oder Günter Steffens (Die Annäherung an das Glück). Der Schock, der die Lektüre von Wellershoffs Bericht dem Leser versetzt, rührt von der unabweisbar werdenden Erkenntnis her, daß es kein versöhntes Sterben gibt, daß sich selbst bei innigster Anteilnahme und praktischer Solidarität der Angehörigen das Sterben am Ende in fürchterlicher Einsamkeit vollzieht. Dies erhellt besonders jene Szene, da der ultimative Abschied bevorsteht, der Schriftsteller zum letzten Mal das Krankenbett seines Bruders verlassen will und der Blick des Moribunden ihn festzuhalten versucht.

„Der Tod“, resümiert Wellershoff, „war ein unteilbares Unglück, erst recht, wenn man unversöhnt mit dem Leben sterben mußte.“ Mitunter scheint es, als zwinge sich der Autor in Distanz zum Geschehen, um gleichsam als objektiver Beobachter das Sterben des Bruders protokollieren zu können und um nicht von den eigenen Affekten hinweggeschwemmt zu werden. Zu solchen Distanzierungsreflexen gehört auch Wellershoffs rascher Griff zur medizinischen Fachliteratur, als er am Telefon von der tödlichen Krankheit in Kenntnis gesetzt wird. Das nüchterne Referieren der medizinischen Fakten zur Leukämie ist eine Schutzmaßnahme des Schreibenden, der den Schrecken bannen und den Schatten des bedrohlich nahe herangerückten Todes abschütteln will. In der „rhetorischen Konvention der Sachlichkeit“ wird auch über die Ultima ratio der Krebsbekämpfung berichtet, über die Chemotherapie und ihre verheerenden Wirkungen auf den menschlichen Organismus. Dieter Wellershoffs Bruder hatte sich jener entwürdigenden Prozedur unterzogen, in der verzweifelten Hoffnung, noch einmal in sein Leben der hochfliegenden Pläne und Projekte zurückkehren zu können. Trotz des dreifachen chemischen Giftangriffs mit nahezu „letaler Dosis“ auf die Leukämie breitete sich der Krebs weiter aus.

Walter Wellershoff starb im Mai 1989, ein halbes Jahr nach Entdeckung seiner tödlichen Krankheit. Dieter Wellershoffs erschütternder Bericht über dieses Sterben hält keine Tröstungen bereit, nur ein Eingeständnis, das auf den ersten Blick zynisch erscheinen mag. Denn der Tod des Bruders hat den Schriftsteller Wellershoff auch mit einer unerwarteten Glückserfahrung beschenkt — mit dem Glück nämlich, das eigene sinnliche Dasein neu entdecken zu können. Gleichzeitig ist natürlich auch dieses Buch ein verbissenes Duell des Autors mit seinem eigenen Tod, ein Flehen um Aufschub des Sterbens, ein tief beeindruckender Versuch, im Augenblick des Schreibens für einen Moment die ständig präsente Todesdrohung aufzuheben. Symbolisiert wird diese Todesdrohung durch ein Landschaftsbild des Malers Paul Cézanne, das dem Buch auch seinen Titel gegeben hat. Im vorletzten Kapitel seines Buches entziffert Wellershoff eine von Cézannes Darstellungen des Berges Sainte-Victoire als Bild der ständigen Präsenz des Todes. Auch im Betrachten von Cézannes Bild, so die Interpretation des Autors, werden wir von den Vorboten des Todes gestreift, wird uns bewußt, daß der Lebenslärm, den wir tagtäglich erzeugen, im Nu verhallen wird: „Der Berg in seiner unbestimmten Entfernung und unabweisbaren Mächtigkeit war das Bild des vorausschwebenden, manchmal nahegerückten und sich wieder entziehenden Lebenstraums, dessen noch verhülltes Geheimnis der Tod ist.“

Dieter Wellershoff: Blick auf einen fernen Berg , Kiepenheuer & Witsch Verlag, 208 S., geb., 34 DM