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Erich oder Nichterich

■ Landet ER heute in Berlin?/ Trotzkisten trotzen der Geschichte und protestieren gegen »Hexenjagd«

Berlin. Kommt ER heute? Oder doch wieder nicht? Wenn ER denn geflogen käme, würde IHM sicherlich ein historischer Platz angeboten. Hinter dem eisernen Vorhang von Moabit. In einer Zelle irgendwo zwischen dem früheren DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph und dem ehemaligen DDR- Verteidigungsminister Heinz Keßler.

Erich oder Nichterich, das ist hier die Frage. Gestern noch sah es danach aus, daß ER, weder von der russischen noch von der chilenischen Regierung in ihrem Lande gewollt, nach Berlin zwangsverfrachtet würde. Hier erwartet IHN ein im November 1990 ausgestellter Haftbefehl wegen der Schüsse an der Mauer, die Chris Gueffroy und weitere drei junge Menschen zwischen 1983 und 1989 töteten. Vorwurf: Anstiftung zum Totschlag.

Doch eine entsprechende Anklage stünde wegen juristischer Probleme auf tönernen Füßen. Das weiß auch Justizsenatorin Jutta Limbach, die nun die Staatsanwaltschaft wegen der Tötung von Flüchtlingen durch die Selbstschußanlagen und Minen an der Grenze und anderer Delikte nachermitteln läßt.

SEINE Lage wäre denn wohl auch halbwegs aussichtslos, wenn es nicht tapfere Recken gäbe, die sich trotzig dem Lauf der Geschichte entgegenwerfen würden. »Das Vierte Reich will Erich Honecker wieder ins Gefängnis werfen, der schon im Dritten Reich jahrelang von den Nazis gefangengehalten wurde«, trompetet die trotzkistische »Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands« zusammen mit ihrem »Komitee für soziale Verteidigung« zu einer »Protestdemonstration« heute um 15 Uhr vor dem Landgericht in Tiergarten. Jelzin wolle Honecker »als Blutopfer an den deutschen Imperialismus« ausliefern, und »die Bourgeoisie von Auschwitz will Rache nehmen für den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland«.

Der bürgerlichen Klassenjustiz, die unsere mittellosen proletarischen Brüder aus unserer Mitte reißen möchte, werden sich die arbeitenden Massen also unter folgenden Parolen entgegenstellen: »Hände weg von Honecker! Verteidigt die Mauerschützen! Hände weg von Markus Wolf, Freiheit für Heinz Keßler und Erich Mielke! Schluß mit der antikommunistischen Hexenjagd! Schluß mit der Enteignungskampagne gegen die PDS, Freiheit für Pohl, Langnitschke und Kaufmann!« usche

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