: Berlin als gigantische Baustelle
■ Buddelnde Männer vor tiefen Löchern, Schupos an den Straßenkreuzungen und einfache Häuser/ Ein Buch, das uns die Hauptstadt einmal von einer ganz anderen Seite präsentiert
Es gibt Begegnungen mit Büchern, die sind von ganz besonderer Art. Manchmal sind es die Umschläge, wieder einmal die Titel, ein anderes Mal die Empfehlung oder der Zufall, die einen dazu bringen, ein Buch zur Hand zu nehmen, es aufzuschlagen, um es dann entweder nicht mehr aus der Hand zu legen, bevor man nicht ganz durch ist, oder aber das Buch gelangweilt wieder in die Garde der Ungelesenen zu entlassen.
Bei Foto-Büchern ist es meist schon der erste Blick, der einem sagt, ob man weiterblättern oder es lieber lassen soll. Bei der gegenwärtigen Flut der Berlin-Bücher ist allemal der prüfende zweite Blick angesagt, um die Spreu vom Weizen zu trennen — bei dem Boom möchte jeder Verlag gerne mitmachen: hier eine Auswahl unter dem Aspekt, dort eine unter jenem. Aufpassen ist da oberstes Gebot, die Willkür verdirbt auch hier mitunter die Augen.
Ganz unbescheiden kommt das hier anzuzeigende Buch daher. Zwar verspricht der Titel viel: Berlin-Mitte um die Jahrhundertwende — was folgt, hält dieses Versprechen auf ganz eigenartige und -willige Weise. Es zeigt das Zentrum Berlins als das, was es eigentlich immer war und vorerst auch bleiben wird: als gigantische und immerwährende Baustelle. Da reibt man sich schon gern mal die Augen ob der ungeahnten Blicke in Berlins Straßen um die Jahrhundertwende: Wo man Idyllisches und Nostalgisches wähnt, gähnt im Zweifelsfalle: das Loch.
Anläßlich des U-Bahn-Baues vom Leipziger Platz zum Spittelmarkt im Jahre 1907 beauftragte die »Gesellschaft für Elektrische Hoch- und Untergrundbahnen in Berlin« einen Fotografen mit der Dokumentation eben dieser Baustelle — über der Erde. Bei Gründung der BVG im Jahr 1929 gelangten diese Fotos ins Archiv der BVG, wo sie jetzt »wiederentdeckt« wurden: jeweils schön mit Datum und Inventarnummer versehen. Mit dem Verlag wollen wir uns an dieser Stelle beim Archivleiter Herrn Joachim Gorell dafür bedanken, daß er die Fotos in ihrem Wert erkannte und auf ihre Veröffentlichung drängte.
Keines dieser Fotos sieht es auf mehr ab, als eben wirklich nur die Baustelle oder die in ihrer Nachbarschaft stehenden Gebäude zu dokumentieren. Kalt, belang- und herzlos fast der unsentimentale Blick auf das Baugeschehen. Zwar wird manchmal ein Kinderwagen oder ein Schupo vor das Objekt plaziert, aber in der Regel sieht man Berliner grauen Alltag. Bauzäune, buddelnde Männer, abgesperrte Löcher und Häuser — einfache Häuser —, die am Straßenrand auf den Bürgersteigen nach dem Motto herumzustehen scheinen: Na kiek ma da.
Und da wird einfach nur gebaut. Es ist komisch, aber so hat man diese Stadt noch nicht präsentiert bekommen: es ist nicht das mondäne und im Bildausschnitt zensierte Bild Berlins, es ist nicht die hehre Baukunst, nicht die königliche und auch nicht die komponierte Stadt, sondern der zufällige Blick auf die Häuser und deren Erdgeschoß- und somit Geschäftszonen. Zufällig deshalb, weil der Fotograf im Prinzip auf die U-Bahn-Baustelle blickt.
Das Buch macht Spaß und neugierig. Auf einigen Seiten sind der Nachkriegs- und der heutige Zustand zu sehen: und wieder einmal wird uns vorgeführt, daß die Zerstörungen ab 1945 eigentlich die größeren und nachhaltigsten Vergehen sind: weil willentlich und überheblich denkend herbeigeführt.
Die Bildlegenden geben kurz und manchmal etwas unbeholfen formuliert Auskunft über die Geschichte dessen, was man sieht. Man hätte sich eine etwas schönere Aufmachung gewünscht, ein größeres Format vielleicht und vor allem eine sorgfältigere Gestaltung. Der Umschlag ist einfach furchtbar, jedenfalls die anbiedernde Bolle-Typografie mit Schatten. Und eines ist schlicht unerlaubt: das Beschneiden von Fotos durch den Buchseiten- beziehungsweise Blockschnitt.
Aber wir sind an diesen Stellen mal nicht kleinlich und sagen: Hingeschaut! In diesem Fall nämlich sehen wir das, was uns in den nächsten Jahren bevorsteht. Matthieu Anders
Jürgen Grothe (Hrsg.): Berlin- Mitte um die Jahrhundertwende , 103 Fotos aus dem Bildarchiv der Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG), 120 Seiten, Haude&Spener, Berlin 1991, 36 DM
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