piwik no script img

Wenn der Postmann niemals klingelt Von Philippe André

Während sich in den letzten Wochen vor Weihnachten die Menschen langsam auf die Feiertage einstimmen, wenn vergnügtes Summen alter deutscher Weisen die Haushalte beseelt, dann ist im Lande der unendlichen Festtagsvorbereitungen für die Post die härteste Zeit des Jahres angebrochen. Jedenfalls glaubte ich das immer felsenfest. Exakt bis letzten Mittwoch:

Postamt Skalitzer Straße, Berlin Kreuzberg, Paketausgabe. Sieben Menschen und ein Pudel stehen vor dem geöffneten der beiden Schalter. Eine Frau möchte ihr Paket aufgeben. Die Sache zieht sich endlos hin. Eigentlich habe ich es eilig. Doch die Schlange wächst. Hinter mir schreit plötzlich ein Mann „Unglaublich ist das, unglaublich!“ Er hat eine knallrote Birne. Ich folge seinem wütenden Blick durch die Scheibe des „vorübergehend“ geschlossenen Schalters. Auch mir wird in der kalten Bude schlagartig heiß. Fünf Mann stehen seelenruhig herum, feixend, lachend, bester Dinge. Sie haben die Augen von Menschen, denen alles stets zu schnell geht. Die Oma vor mir klagt laut vor sich hin. Immer sei sie zu Hause, die Klingel in Ordnung und jede Weihnachten würde sie 20 Märker für die Jungs springen lassen. Vergeblich! „Noch kein Paket wurde mir gebracht“, seufzt sie. Eine Diskussion entsteht. Immer mehr Leute mischen sich ein. Auch der Ton schwillt an. Aufmerksam beobachte ich den einzigen, der auf der anderen Seite — mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa acht Metern pro Stunde — „tätig“ ist. Sein Körper wirkt jung, das Antlitz jedoch leblos, die Bewegungen mechanisch. Er erinnert an einen Roboter, der dringend aufgeladen werden müßte. Die Rothaut schreit wieder, brüllt was von einem Ort, an dem sich „grenzenlose Faulheit mit unendlicher Dämlichkeit paaren“ würde. Auch die übrigen gehen nun zu direkten Attacken über. „Wenn Ihr ma streikt, merkt'et keener“, schlägt ein Geschoß ein. Die fünf von der anderen Seite schießen brutal zurück. Sie benutzen Dumm- Dumm-Argumente wie „mir doch piepe“ oder „det jeht Sie jarnüscht an“. Das ist gemein. Ich muß also doch eingreifen und wähle sofort ein größeres Kaliber. „Den ganzen Laden müßte man privatisieren“, feuere ich freudig erregt aus sicherer Deckung, und „ruckzuck würdet Ihr das Arbeiten lernen“ siegestrunken hinterher. Volltreffer! Augenblicklich Stille. Aber so komisch. Damit hat wohl keiner gerechnet, versuche ich mir Mut zu machen. Nicht in Kreuzberg, nicht wahr? Eisiges Schweigen. Nur die Oma ist zu hören, die ihr Paket nicht aus der Halle kriegt. Unsicher geworden suche ich Rotköpfchens Blick. Doch der Feigling weicht aus, sieht betreten zu Boden. Nur der defekte Robi starrt mich aus seinen „Low Battery“-Augen an. Dabei war's doch gar nicht so gemeint. Ich bin kein Neo-Wessi, schreie ich innerlich um Vergebung, jemand muß mir aus dem Näpfchen helfen. Sobald ich kann, räume ich das Feld. Eigentlich richtig sympathisch die Leute, denke ich auf dem Nachhauseweg. An dem Punkt diese unglaubliche Solidarität...

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen