: Das Herz des Boxers rutscht nie in seine Hose
■ In der Bundesliga der Box-Amateure schlug Boxring Berlin die stärkste Vereinsstaffel der Welt aus Schwerin mit 16:14 Doch spannender als das nackte Ergebnis im Kampf der fäustelnden Giganten ist das Innenleben der Athleten
Spandau (taz) — Ein Hammer erster Schlag-Sahne lockte die Massen ins volkstümlich anmutende Spandauer Bruno-Gehrke-Sporthällchen. Schwerin kommt, jubelten die Fans mit geplätteten Nasen und geschwollenen Jochbeinen, die den Ex-DDR- Meister, damals noch Traktor Schwerin, zu Recht als weltbeste Vereinsstaffel einstuften. Wer soll mit den Mecklenburgern, den schlagfertigen »Kubanern« aus dem hohen Norden, die Fäuste kreuzen? Berlins Trainerduo Gerhard Dieter und Ulli Wegner kam vor dem Fight mächtig ins Grübeln. Wohl wissend, daß die sensationelle 14:15-Niederlage der Ostdeutschen gegen Ahlen vom Vorwochenende weniger auf Leistungsschwäche denn auf organisatorische Arroganz zurückzuführen war. Prompt setzten die beiden »Boxring«-Coachs für ihre Schützlinge ein zusätzliches Trainingssparring an, das letzten Aufschluß über die Form ihrer Berliner geben sollte. Aber was sagt eine tolle Frühform über Geber- und Nehmerqualitäten im Ernstfall aus? Eine Sportart, deren Spielplatz ein quadratischer Ring (!) ist, kann nicht normal sein.
»Boxer sind äußerst sensible Burschen«, meint auch Gerhard »Bubi« Dieter. Wenn Bubi erzählt, würde man sich gerne selbst im Ring aufopfern. Wie einst Gerhard Hauptmann das soziale Elend im Deutschland der Gründerjahre beklemmend realistisch beschrieb, so analysiert er die psychische Not seiner Fäustlinge vor dem Ernstfall. Die These vom weichen Boxer-Keks unter dem obligatorischen Schutzhelm — sie rückt dann in ähnlich weite Ferne wie die Sozialverträglichkeit der Olympia- Politik Herrn Diepgens. »Boxen ist nichts für Dumme, sondern eher Schach mit den Fäusten, das einigen Grips voraussetzt. Schon ein kleiner Konzentrationsfehler — und der Kampf kann vorzeitig beendet sein«, rückt Dieter Vorurteile zurecht.
Um im Bundesliga-Klassenkampf dem ideellen Gesamtschweriner durch beeindruckende Lebermassage den Knockout zu versetzen, muß die einheimische Boxer-Gilde schon vorab durch die ganz alltägliche Hölle. »Eigentlich sind die Jungs froh, wenn sie im Ring stehen, denn dann ist das Allerschlimmste vorbei«, weiß der Trainer, der einst selbst unter Wettkampfbedingungen Augenbrauen öffnete. Im Landesleistungszentrum schufteten sie für ihren Auftritt. Doch erst im Punktefight müssen sie beweisen, wie sie in Wirklichkeit gar nicht sind.
Zum Beispiel Adnan Özcoban, Deutschlands bester Leichtgewichtler. »Nie würde ich im normalen Leben jemanden angreifen«, versichert der Kreuzberger Türke mit diabolischem Dynamit in seinen Händen. Nur in der U-Bahn fährt er manchmal hoch: »Ich würde jeder Oma sofort meinen Platz anbieten.« Überhaupt diese verdammte Gewalt. Auch Berlins Aushängeschild Sven Ottke, der am Samstag als Spandauer Heimrecht genoß, ist ansonsten eher ein friedliches Lamm. Ein Fall für den Motivator und Psychologen Bubi Dieter? Nicht unbedingt! »Wenn einer meiner Jungs vor dem Kampf zu mir käme und würde sagen: Hör mal, Trainer, ich kann heute nicht boxen, weil ich meinen besten Freund zusammenschlagen könnte, würde ich das akzeptieren. Aber nicht, wenn einer trainingsfaul ist.« Das Herz des Boxers — verstehe es, wer will! Rauhe Muskelprotze, die beim Abspecken »mir jeden Becher Wasser aus der Hand schlagen würden« (Trainer Dieter), weil es ihr Idealgewicht gefährden könnte, gebärden sich als reine Softies.
Samstag, 16 Uhr, war aller Pazifismus verflogen. Ausgerechnet Özcoban mußte gegen den Ausnahmekönner Andreas Zülow, Olympiasieger 1988, schlagen, daß die Funken flogen. In der zweiten Runde schickte er seinen Kontrahenten sogar auf die Bretter, was jedoch nicht reichte, um die Punktrichter zu überzeugen. Der favorisierte Nord- Mann gewann hauchdünn. Schließlich sorgte Sven Ottke, der im Halbschwergewicht, eine Gewichtsklasse höher als gewohnt, antrat, für den Paukenschlag des Abends. Mit einer exzellenten Leistung, die auch jeden Box-Allergiker begeistert hätte, bezwang er den slowenischen Europameister Andrej Ovationnoch. Mit 16:14 war Schwerin bezwungen worden, eine geglückte Revanche für die Niederlage vom Vorjahr. In des Trainers Gaststätte feierte die Boxring-Crew »in fröhlicher Runde« vorgezogene Weihnachten. Bei Spekulatius und Pazifismus. Jürgen Schulz
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