: Dem Sog der Metropole entgegen
■ Die Probleme Berlins und des Umlands sind momentan nicht mit einem gemeinsamen Land Berlin-Brandenburg zu lösen
Berlin-Brandenburg. In den zwanziger Jahren hat ein Historiker die These vom Primat der Innenpolitik entwickelt. Danach dienten außenpolitische Strategien vorrangig dem Abwenden sozialer und politischer Gefahren im Innern eines Gemeinwesens. Die verstärkten Bemühungen des Senats um ein Land Berlin- Brandenburg müssen deshalb wie der verzweifelte Versuch anmuten, von den schwerwiegenden und vielfältigen Problemen des Bundeslandes Berlin abzulenken.
Erwähnt seien nur die offenen Fragen der Verkehrsstruktur und eines einheitlichen Flächennutzungsplanes, der Energieversorgung und Abfallbeseitigung, das unbewältigte Problem des Wohnungsmarktes, die dringend notwendige Verwaltungsreform oder die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Haushaltsabsicherung. Demgegenüber haben die städtebaulichen Konflikte über den mehr oder weniger repräsentativen Ausbau im zentralen Bereich der Bundeshauptstadt eher nachgeordnete Bedeutung.
Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen hat frühzeitig auf mögliche Interessenkollisionen zwischen der Metropole Berlin und dem Vorortgürtel hingewiesen. Die Gefahr eines Wettbewerbs könne vor allem bei regionalen Infrastruktur- oder Verkehrsplanungen zu unliebsamen Verzögerungen führen. Entscheidender seien aber mögliche finanzielle Folgewirkungen der neuen politischen Verhältnisse. Die Kommunen des Umlandes sind ohne weiteres in der Lage, günstige Voraussetzungen für Betriebsansiedlungen zu schaffen. Ihre landschaftliche Umgebung bietet gleichzeitig für einkommensstarke Bevölkerungsschichten einen Anreiz, sich niederzulassen.
Die Vororte Berlins würden einerseits von dem Wachstum des großstädtischen Wirtschafts- und Verwaltungsraums profitieren, andererseits ginge der Metropole auf diese Weise ein erhebliches Steueraufkommen verloren, obwohl sie weiterhin herausragende, öffentlich subventionierte Leistungen, insbesondere im Bereich der Kultur und der Dienstleistungen, für das Umland erbrächte.
Es sind ebenso die sich anbahnenden Steuerverluste, zumal vor dem Hintergrund eines sich nur schwerfällig vollziehenden Umdenkens im entsubventionierten Haushaltswesen, wie vorweggenommene Unsicherheiten und Abhängigkeiten bei der Landes- und Regionalplanung, die die Idee eines gemeinsamen Bundeslandes Berlin-Brandenburg motivieren. Die Zugeständnisse der Bundeshauptstadt sind von einnehmender Großzügigkeit: Es versteht sich von selbst, daß der Sitz der vereinigten Landesregierung Potsdam heißt und zahlreiche wichtige Landeseinrichtungen an die untere Havel umziehen.
Verdoppelung der Berliner Bevölkerung
Sämtliche neueren Planungsvorstellungen zum Großraum Berlin gehen davon aus, daß die Bundeshauptstadt zukünftig einem erheblichen Bevölkerungsdruck ausgesetzt sein wird. Die Schätzungen zum Wachstum der Einwohnerzahl in »überschaubaren Zeiträumen« schwanken zwischen einer und dreieinhalb Millionen, was einer Verdoppelung der heute bestehenden Bevölkerungsziffer gleichkäme. Wo sollen — wenn man einmal von der Evidenz dieser Wachstumsprognosen ausgeht — diese Menschen wohnen? Die Planer gehen davon aus, daß über zwei Drittel dieser Zuwanderer im Umland siedeln werden, während etwa dreißig Prozent in das Gebiet der Hauptstadt ziehen werden.
Die angenommenen Zuwachsraten, selbst die niedrigste von einer Million in der nächsten Dekade, liegen höher als die Quoten der Hochindustrialisierungsphase. Bei diesen Zahlen muß berücksichtigt werden, daß das Vorkriegs-Berlin zu Beginn dieses Jahrhunderts viel mehr in der Mitte Deutschlands lag als die heutige Bundeshauptstadt. Mit Pommern, Schlesien und Ostpreußen besaß Berlin eine östliche Anbindung an weiträumige Flächenprovinzen. Sowohl die heutige Randlage der Stadt als auch die föderale Verfassung der Bundesrepublik mit ihrer polyzentristischen Städtestruktur dürfte eher hemmend auf innere Bevölkerungsverschiebungen wirken.
Die Wachstumseffekte, die durch die wiedergewonnene zentrale Administrationsfunktion Berlins ausgelöst werden, können vermutlich nicht die prognostizierten Bevölkerungsgewinne zeitigen.
Die Wirkungen wiedergewonnener zentraler Verwaltungs- und Dienstleistungsaufgaben werden gegenüber den niedrigen Wachstumsraten der zurückliegenden Jahrzehnte — sie lagen zwischen 1971 und 1987/89 im Stadtgebiet bei 3,8, im weiteren Ballungsraum bei 3,3 Prozent — sicherlich eine schnellere Bevölkerungszunahme auslösen, aber wichtiger als die absolute Steigerung der Einwohnerziffer wird eine regionale Bevölkerungsverschiebung sein.
Die Raumbedürfnisse für Verwaltung, Dienstleistungen und Gewerbe können nur auf Kosten einer umfangreichen Verdrängung einzelner Einwohnergruppen aus dem inneren Stadtgebiet erkauft werden. Das Umland beziehungsweise der weitere Ballungsraum muß diese Menschen aufnehmen. In allen westdeutschen großstädtischen Ballungsgebieten — in Hamburg und München ebenso wie im Rhein-Main-Gebiet — läßt sich dieser Prozeß beobachten. Noch deutlich tritt er in anderen westeuropäischen Metropolen wie London und Paris auf, deren Stadtgebiete zwischen den späten sechziger bis Mitte der achtziger Jahre Bevölkerungsabnahmen von über zehn Prozent zu verzeichnen hatten, auf.
Wenig Aussicht auf Eigenständigkeit
In der Metropole Berlin entfallen fast achtzig Prozent der Bevölkerung auf die eigentliche Kernstadt. Das Umland ist im Vergleich zu anderen großstädtischen Ballungsgebieten unterdurchschnittlich besiedelt. Die Einwohnerdichte der Berliner Innenstadt hingegen ist nach der von Paris die höchste in West- und Mitteleuropa. Im gesamten Stadtgebiet liegt sie allerdings deutlich hinter der entsprechenden Ziffer der Seinemetropole oder der Londons und bleibt selbst hinter der Einwohnerdichte Münchens zurück.
Die besondere Lage Berlins und die Struktur des weiteren Umlandes bieten zunächst wenig Aussichten für die Vororte, sich dem Sog der Metropole zu entziehen und eigenständige Gegenpole zum großstädtischen Zentrum zu bilden. Die politische Vereinigung von Berlin und Brandenburg wird dieses Problem eher noch verschärfen, da die ökonomische Potenz der Kernstadt des vereinigten Bundeslandes, ihre überdurchschnittlichen Aufwendungen für Infrastruktur und Dienstleistungen, zwangsläufig eine metropolenorientierte Landespolitik nach sich zieht.
Die Konzentration auf die Zentrale würde auch aus den Bedürfnissen der Hauptstadt folgen: Viele landes- und regionalplanerische Eingriffe werden den Funktionen der Stadt angepaßt werden müssen. Fraglich bleibt ebenso, ob die Wahl Potsdams zur Landeshauptstadt auf die Dauer durchzuhalten ist. Jedenfalls zeigt die Geschichte der wihelminischen Reichshauptstadt, daß die Verwaltungszentralisierung vor den Provinzialbehörden nicht halt machte: So befand sich beispielsweise das Landratsamt des Kreises Teltow in Berlin, das Oberpräsidium der Provinz Brandenburg und Berlin wurde 1914 von Potsdam nach Charlottenburg verlegt.
Einer Bevölkerungsexpansion im innerstädtischen Raum Berlins sind Grenzen gesetzt. Die Stadtentwicklungsplanung sollte trotz des relativ zunehmenden Siedlungsdrucks nicht in den alten Fehler verfallen, neue Modelle für Satellitenstädte zu projektieren. Langfristig gesehen muß das Wachstum Berlins begrenzt werden, insbesondere durch Vervollständigung beziehungsweise Verdichtung des Grüngürtels und der Freiflächen. Die Siedlung muß den sternförmig vom Stadtgebiet ausgehenden Achsen folgen und den Versuch einschließen, dezentrale Schwerpunkte zu bilden. Die schwache Entwicklung der Kreisstädte und sonstigen Ortschaften des Umlandes dürfte allerdings Schwierigkeiten bereiten.
Um einer Zersiedlung des hauptstädtischen Umlandes, der Einschränkung von Freiflächen oder den Problemen einer effektiven, umweltverträglichen Daseinsvorsorge zu begegnen, ist nicht die Vereinigung zweier Bundesländer notwendig, sondern eher die Gründung eines Zweck- oder Planungsverbandes, der als interkommunale Einrichtung die Gemeinden des Großraums Berlin zusammenschließt.
Ausgestattet mit Planungshoheit und Ausführungskompetenz sollten dem Verband einzelne Aufgaben übertragen werden, wobei ebenso an die Flächennutzungs- und Verkehrsplanung wie an infrastrukturelle Aufgaben im Bereich der Wasserversorgung, Abfall- und Abwässerbeseitigung, der Bodenbevorratung und des Umweltschutzes und an die Energiewirtschaft zu denken wäre. Auch die Wirtschaftsförderung müßte in die Kompetenz des Verbandes übergehen, damit durch überörtliche Zielsetzungen gemeindliche Konkurrenzen begrenzt werden können.
Der Vorteil einer Vereinigung von Berlin und Brandenburg wäre die umfassende Verwaltungszuständigkeit des Landes, die sich von der Landesplanung und Raumordnung, über Bauordnungen und kommunalen Finanzausgleich bis hin zur Gemeindegesetzgebung und territorialen Verwaltungsreform erstrecken würde. Die Unterschiedlichkeit der Gebietskörper lassen allerdings von einem Zusammenschluß absehen: die begrenzte interkommunale Verbindung fördert dagegen den Interessenausgleich bei gleichzeitiger Stärkung gemeindlicher Positionen.
Der Autor Dr. Berthold Grzywatz ist Historiker und arbeitet in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema »Vorort und Metropole im 19. und 20. Jahrhundert«.
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