: Der Dekomponist
Avantgarde, Konvention und staatstragende Pinguine: Ein Gespräch mit dem Komponisten Mathias Spahlinger ■ Interview: Susanne Paas
Er hat diese besondere Partituren- Zeichensprache erfunden, die akribisch jedes Schleifen, Knarzen, Ratschen, Plingen, Schnalzen, Hauchen, Knipsen, Quietschen von Bratsche oder Cello notiert. Er schreibt moderne E-Musik, die alle bestehenden Konventionen und Ordnungen zerstören will. Er komponiert die Atemgeräusche der Musiker mit ein und schreckt nicht davor zurück, Pausenzeichen mit Akzenten zu versehen: Mathias Spahlinger, 48, gelernter Schriftsetzer, Saxophonspieler, Jazzer, inzwischen Professor am Institut für Neue Musik in Freiburg. Anläßlich einer Aufführung seines Streichquartettes „Apo do“ gab es in Bremen einen Erarbeitungsworkshop mit dem Komponisten und dem international renommierten „Arditti-Quartett“ aus London.
taz: Mathias Spahlinger sprach in Bremen über den modernen Komponisten Mathias Spahlinger — was für Musik macht dieser Mann, der mit 15 Jahren noch Jazzmusiker werden wollte?
Mathias Spahlinger: Neue E-Musik, unter Fortsetzung der Traditionslinien der europäischen Avantgarde. Das sagt aber nicht viel, weil die Konzert-Avantgarde-Position immer suspekt war. 1950 konnte man noch glauben, daß Zentraleuropa die Speerspitze des Fortschritts stellt, daß man die Avantgarde-Musik in hundert Jahren auf der Straße pfeifen würde, überall auf der Welt. Das hat sich Gott sei Dank gründlich gewandelt, ich habe das nie lupenrein vertreten:
Ich habe als „Jüngling“ Jazz gemacht (und mach das heut noch heimlich, oder unheimlich). Für mich ist die europäische E-Musik-Avantgarde ein musikalischer Soziolekt unter anderen. Ich erwarte sehr viel von der Peripherie.
Wo liegt die?
In den Ländern, die unter der europäischen, auch kulturellen Kolonisation zu leiden haben. Es gibt kein Land auf der Welt, in dem nicht die europäische Musik dominiert im sogenannten seriösen Konzertleben und im Erziehungswesen! Ich kenne eine Reihe asiatischer Studenten und Studentinnen, die sind allesamt mit europäischer Musik aufgewachsen, nicht mit der ihres Landes.
Eine Ihrer erklärten Kompositionsabsichten ist, Ordnungsprinzipien zu destruieren, zu „dekomponieren“. Welche? Und was kommt danach?
Es gilt, die eigenen Konventionen nicht nur außer Kraft zu setzen, sondern bestimmt zu negieren, und keine positiv neue Konvention an ihre Stelle zu setzen. Anything goes! Dieser für die Moderne spezifische Satz läßt sich eben nicht einspannen für reaktionäre Tendenzen: Alles geht, aber eben nichts, was eine neue Konvention etablieren oder eine alte restaurieren will.
Alle bisherige Musik wurde am besten verstanden durch Musik; die Nachfolgenden haben die Konventionen der Vorausgegangenen bestimmt negiert: man konnte eine Beethovensche Klaviersonate adäquat verstehen, wenn man die Haydnschen und Mozartschen gekannt hat und begriffen hat, wie der vorgegebene Zusammenhang modifiziert, destruiert und rekonstruiert wurde.
Es geht gerade nicht um eine neue, „richtigere“ Ordnung, die nach ihrer Etablierung nicht weiter reflektiert wird, sondern darum zu reflektieren, daß falsch und richtig kontextabhängig sind und sich in wechselnden Zusammenhängen ins Gegenteil verkehren können.
Falsch und richtig sind gewagte Kriterien...
Ich glaub', man kommt nirgends ohne sie aus.
Was heißt das für die neuen Tonsysteme?
Mir erscheinen zum Beispiel die Zwölftontechnik und die aus ihr folgenden seriellen Techniken geradezu dazu erfunden zu verhindern, daß sich konventionelle, syntaktische Ordnungen wieder einschleichen. Die Zwölftonreihe ist in diesem Sinne keine neue positive Ordnung, denn aufgrund ihrer Atomistik wird sie als Zusammenhang an der Oberfläche nicht erkannt.
Das bringt dann die Schwierigkeit mit sich, daß jedes Musikstück seinen Zusammenhang aus sich selbst herstellen muß, und das ist aber nicht an den Werken selbst ablesbar! Die Neue Musik geriet nicht aus Zufall oder wegen des übersteigerten Individualismus der Künstler ins gesellschaftliche Abseits, sondern weil alle marktgängigen Konventionen, die auseinander hervorgegangen waren, in ihr abgeschafft sind zugunsten ihrer Negation.
Wenn Sie komponieren, beziehen Sie Ihre Anlässe aus dem wirklichen Leben?
(lacht) Eine taz-Frage! Das gibt es tatsächlich, aber das geht an der Sache vorbei. Sie sprechen von Wirklichkeit!
Jemand, der sich mit Erkenntnistheorie beschäftigt, wird sagen, daß es unmöglich ist zu beweisen, daß es Wirklichkeit unabhängig vom Bewußtsein gibt. Was ist denn „wirklicher“: die sogenannte Realpolitik, die von lauter Irren gemacht wird, oder der Versuch, musikalische Konzepte zu entwickeln? Die kommen der Wirklichkeit vielleicht dadurch näher, daß sie ins Kalkül ziehen, wieviel unsere Bewußtseinskategorien bei der Betrachtung von Wirklichkeit hinzutun! Die bisherigen musikalischen Systeme haben definiert, was Material ist und zum Werk gehören kann und was nicht. Unmöglich, in einem traditionellen musikalischen Zusammenhang einen Ton, einen Anschlag, eine rhythmische Artikulation, ein „a“ zu hören, ohne zu wissen: „Das ist die Quint in D-Dur, auf diesem Ton kann der Melodiebogen nicht enden.“ Das wäre aber in wechselnden, anderen Zusammenhängen ganz anders gewesen!
Ich bin gegen geschlossene Systeme und dafür, daß die Kategorien dauernd wechseln!
Wie geht das praktisch?
Was klingt alles mit in einem Beckenschlag! Viel mehr und anderes, als daß ein Beckenschlag sich darin erschöpft, als Tonikaverstärker zu wirken. Was darin klingt, wird vielleicht hörbar, wenn der Schlag umgeben wird mit hohen Streicher-Flageolett-Tönen. Und daß er nicht jedesmal genau gleich klingt, wird womöglich dadurch hörbar, daß derselbe Beckenschlag mit verschiedenen Streicherklängen konfrontiert wird. Das etwa meine ich mit dauerndem Kategorienwechsel.
Sie haben in Bremen nicht nur Ihr Stück „Apo do“ aufgeführt, sondern zuvor einen Workshop mit dem Londoner Arditti-Quartett gemacht. Weil man solche Musik, pur, ohne Sprache, gar nicht versteht?
Das ist gar kein wunder Punkt! Es spricht nicht gegen Neue Musik, daß sie kommentarbedürftig ist; zwar gilt das frühere Verhältnis, daß man Musik am besten als Antwort auf Musik versteht, zugleich auch noch. Doch wo keine neue Konvention etabliert wird, kann ein Kommentar prinzipiell nichts schaden.
Haben Sie Lieblingsinstrumente für Ihre Absichten? Bei Streichern ist ja die Unwägbarkeit der Musiker, also ihre Freiheit, viel größer als beispielsweise bei dem Klavier.
Lieblingsinstrumente? Nein.
Was Sie vorfinden, ist die Ordnung eines Streichquartetts, den ersten Geiger. Komponieren Sie das mit ein? Sie haben mal gesagt, man müsse den „Widerspruch zwischen Solist und Orchester zum Klingen bringen“.
Es wäre ein Mißverständnis, sich zu so einer Formation komponierend „kritisch“ zu verhalten, so daß das Ensemble schlecht dasteht.
Das Streichquartett im Frack, vorn familiär offen und Pinguin- Frackschöße hinten, staatstragend, so eine Mischung aus Oberkellner und Ministerpräsident, dazu diese Aufführungsrituale, mit Wohnzimmerlampe auf dem Podium — das ist die Erscheinungsform und das Ambiente, das sich das emanzipierte Bürgertum selbst gegeben hat für die Präsentation seiner autonomen Musik, die nur gemacht war, um Musik zu hören, nicht um einen Zweck zu erzielen oder einen Text zu transportieren. Diese „vier vernünftigen Leute“, dieses „sich als verwirklicht anschauende revolutionäre Bewußtsein“ ist Chance und Schwäche des Genres:
Es kann nichts darstellen, was ein bißchen plebejisch, mißlungen oder auch nur vulgär ist. Das ist seine esoterische Aura.
Die Abweichung von der Norm ist normativ für das Streichquartett! Der Bürger kann sich autonome Musik aufgrund von Prosperität leisten. Das alles ist präsent im Streichquartett. Deshalb steht es auch für die Hohlgewordenheit der künstlerischen Autonomie.
Nachdem die Musik sich emanzipiert hat, macht es keinen Sinn mehr, an Autonomie strikt festzuhalten. Man muß kapieren, daß Musik politisch wirkt, daß es eine politische Funktion hat, sich hinzusetzen, Musik um ihrer selbst willen zu hören und zu vergessen, was man gerade in der Zeitung gelesen hat! Es wäre eine weitere Emanzipation, dabei nicht stehenzubleiben.
Haben Sie bei der Komposition genaue Vorstellung von der Aufführungstechnik? Wie frei sind die Musiker?
In meinen Partituren steht genau, was zu tun ist und wie es klingen soll. Man kann auch die soziale Interaktion beobachten und diese komponieren, sich nicht zuerst am Klangresultat orientieren. Das hat man in den 68er Jahren gemacht. Es eignet sich aber mehr für Laienmusiker und Improvisationsgruppen.
Akzeptieren Sie die Hierarchie des Quartetts?
(lacht) Das wird man der Musik anhören. Ich glaube — nicht.
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