: Honecker ist nicht aufzuhalten
■ Nordkorea möchte „eine Geste wahrer Menschlichkeit“ machen/ Bonn spielt diplomatisch über die Bande/ Rußland „hätte sich nicht einmischen sollen“/ Alle wollen „das Problem loswerden“
Berlin (afp/ap/taz) — Ziemliche Verwirrung herrschte gestern über das weitere Schicksal Erich Honeckers, aber die Anzeichen mehrten sich, daß der ehemalige Staatschef nach Nordkorea ins Exil geht. Die nordkoreanische Regierung sähe darin jedenfalls „keine Belastung im Verhältnis zu Deutschland“. Das sagte der nordkoreanische Botschafter in Moskau, Son Sen Pxira, der sowjetischen Nachrichtenagentur 'Interfax‘ am Montag. Er bestätigte, sein Land habe Rußland und die Sowjetunion offiziell gebeten, Honecker zur medizinischen Behandlung in die Volksrepublik ausreisen zu lassen. Nordkorea, so der Außenminister Kim Young Nam, verstehe das „als eine Geste wahrer Menschlichkeit“.
Honecker sollte nach einem zweiten Ultimatum Rußlands das Land bis zum gestrigen Montag, 23 Uhr verlassen haben. Vertreter Nordkoreas und Rußlands planten für Montag abend ein zweites Treffen über die Frage der Ausreise Erich Honeckers.
Zuvor war der Botschafter vom russischen Parlamentschef Ruslan Chasbulatow empfangen worden, um den Fall zu erörtern. Chasbulatow sagte 'Interfax‘: „Unsere Regierung hätte sich in diese Sache nicht einmischen sollen.“ Die russische Regierung rückte von ihrer harten Position im Fall Honecker ab. Der russische Außenminister Andrei Kosyrew sagte der russischen Agentur 'ria‘: „Er (Honecker) kann die chilenische Botschaft verlassen, und niemand wird ihn in Gewahrsam nehmen.“ Der russische Justizminister Nikolai Fjodorow betonte in einem Interview mit 'Bild‘, Honecker könne nur festgenommen und nach Deutschland gebracht werden, wenn er keinen diplomatischen Paß habe. Fjodorow hatte zuvor allerdings noch versichert, es würden Zwangsmaßnahmen ergriffen, wenn der einstige SED-Chef nach Ablauf des Ultimatums nicht das Land verlasse.
Um das Kompetenzwirrwarr zu vervollkommnen, gab auch noch der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse ein Statement ab: Honecker solle freies Geleit bei einer Ausreise in ein Land seiner Wahl gewährt werden. „Ihn wird niemand aufhalten, Honecker soll selber entscheiden, wohin er will“, sagte Schewardnadse in einem Interview mit der 'Bild‘-Zeitung. Schewardnadse wußte sich einig mit seinem russischen Amtskollegen Kosyrew, der für die nordkoreanische Variante plädierte, weil „man dadurch das Problem loswird“. Honecker habe schließlich auch gedroht, sich das Leben zu nehmen, falls er nach Deutschland ausgeliefert wird.
Trotz des offensichtlichen Zeitdrucks reagierte Bonn gelassen auf die Perspektive, daß Honecker entwischen könnte. Regierungssprecher Dieter Vogel sagte vor der Presse, es gebe sehr unterschiedliche Meinungen von Ministern in der russischen und der sowjetischen Regierung. Jetzt müsse zunächst eine eindeutige Haltung abgewartet werden. „Die russische, sowjetische und die chilenische Regierung kennen ganz genau unseren Rechtsstandpunkt.“ Aber wenn Rußland Honecker ausreisen lasse, könne man nichts machen. „Uns sind die Hände gebunden“, hieß es aus Regierungskreisen.
Was Nordkorea angeht — da muß Bonn diplomatisch über die Bande spielen: Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes erläuterte, die Bundesrepublik habe zwar keine diplomatischen Beziehungen mit Nordkorea, sei dort aber durch Schweden vertreten. Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes bei der dortigen schwedischen Botschaft hätten der nordkoreanischen Regierung den Bonner Standpunkt „sehr deutlich“ gemacht. Außerdem habe das Auswärtige Amt den an der chinesischen Botschaft in Bonn akkreditierten Vertreter Nordkoreas „einbestellt“ und die Haltung der Bundesregierung ebenfalls klargestellt.
Auch SPD-Chef Björn Engholm sah keinen Grund zur Aufregung: Mit der Möglichkeit eines Exils in Nordkorea könne man leben. Dennoch werde niemand mit einer Aufnahme Honeckers zufrieden sein. Es sei „keine glückliche Lösung“, wenn viele kleine Leute in Deutschland vor Gericht stünden und die „großen ganz und gar ungeschoren davonkommen“.
Zu Äußerungen aus Chile, Honecker werde dort doch Aufnahme finden, sagte Vogel, dazu gebe es noch keine Reaktion der Bundesregierung. Bonn wisse, daß dies ein innenpolitisches Thema in Chile sei. Aber auch die chilenische Regierung „kennt unseren Standpunkt“ und wisse, daß Bonn diesen Standpunkt nicht aufgeben werde. Auch habe das Verhalten Chiles keine Auswirkungen auf die Entwicklungshilfe.
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