ESSAY
: Identitätsstörungen

■ Ostmitteleuropa auf der Suche nach den verlorenen Hoffnungen

Die liberale Idee, die sich als so geeignet erwiesen hatte in der Entlarvung des bereits schwachen Ein-Parteien-Staates, wurde in den post-kommunistischen Gesellschaften weder in der Sphäre der alltäglichen Ökonomie noch in der politischen Praxis umgesetzt.

Aus der jeweiligen staatlichen Binnenperspektive haben die neuerdings sich demokratisierenden Gesellschaften und ihre Ökonomien schlicht keine Kapazität, um die Probleme zu lösen, vor denen sie stehen: Inflation, Arbeitslosigkeit, fehlende Infrastruktur und fehlendes Know- how. Die Rede von einem Prozeß der Angleichung an die kapitalistische Welt, die Versprechungen des Aufholens und des Anschlusses an Europa, sind entsprechend für die Mehrheit zu leeren Phrasen geworden. Als zusätzliche Konsequenz haben der Liberalismus und in jüngster Zeit auch die Demokratie ihren anfänglichen Glanz und ihre Anziehungskraft verloren.

Wenn Europa unerreichbar bleibt oder sich als unzugänglich erweist — ist es dann wirklich erstrebenswert? Die Stimmen eines populistischen „Dritten Weges“ werden stärker und auch immer aggressiver. Unglücklicherweise gewinnen sie an Attraktivität für die wachsende Masse derer, die frustriert, marginalisiert und ausgeschlossen sind von dem kleinen und wohlgehüteten „Klub der Reichen“.

Ich würde nicht so weit gehen wie Immanuel Wallerstein, der behauptet, daß 1989 das Ende des Liberalismus markiere und nicht das des Kommunismus (der, wie er sagt, schon viel früher zusammengebrochen war). Aber es liegt ein Element von Wahrheit in dieser Zuspitzung. Ostmitteleuropa ist ein typischer Fall einer plötzlichen und unvermittelten Frustration der Hoffnungen, der Versprechungen und des Glaubens an einen schnellen Fortschritt.

Eine neue Post-Jalta-Version des Marshall-Planes hätte helfen können, die verschiedenen komplexen Programme zu koordinieren, die Entwicklung einer geeigneten Infrastruktur zunächst zu entwerfen und dann zu beobachten, wie zum Beispiel eines Bankensystems, der Kommunikationstechnologien, von Forschungs- und Ausbildungsprogrammen, ökologischen Sonderprojekten etc. Daß dies nicht zustandekam, machte umgekehrt die Wege kurz von der Enttäuschung zur Frustration, von der Frustration zur Marginalisierung, von der Marginalisierung zu Unmut und Aggressivität. Diese nimmt unterschiedliche Formen an: Haß gegen innere Minderheiten (die Kommunisten und die Juden), und — nach außen gerichtet — gegen den „Westen“.

Die Tendenz, nach Sündenböcken zu suchen, hat zugenommen und die Wahl, wer die neuen Opfer sein werden, wird den stärksten Kräften des politischen Fundamentalismus zufallen. Die Quellen des Hasses scheinen so unbegrenzt zu sein wie die ungeheilten Wunden des national(istisch)en Geistes. Aber die vielfältigen Ausdrucksformen des Hasses haben eine gemeinsame Tendenz — die Homogenisierung.

Multidimensionale Kultur

Der deutsche Philosoph des 18.Jahrhunderts, Johann Gottfried Herder, ist der Erfinder der Idee der „Zugehörigkeit“. Entsprechend dieses Begriffes kann oder sollte jedermann nur eine kulturelle Identität besitzen — eine „Heimat“. Was aber geschieht mit denen, die eo ipso mehr als eine Identität besitzen? Gruppen, die aus historischen Gründen nicht in die Familie des traditionellen Nationalstaats passen? Die Juden und die Sinti und Roma sind dafür die bekanntesten Beispiele. Die Frage betrifft aber auch jene, die sprachlich und ethnisch so vermischt sind, daß sie den alten/neuen Kategorien des wiedererstarkten Nationalstaats von Kroatien, der Ukraine, Litauen oder Georgien nicht mehr entsprechen. Was wird ihr Schicksal sein? Assimilation, Vertreibung oder Vernichtung? Oder werden sie wieder den alten und neuen Kampf der nationalen Minderheiten beginnen wiederum mit der Forderung nach dem Recht der Selbstbestimmung?

Ostmitteleuropa ist bekannt für seine verwirrenden und verwirrten ethnischen Beziehungen. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Nationalstaaten geschaffen wurden, gab es kaum einen Zweifel an dem schnellen Wiederaufleben von Konflikten entlang der ethnischen Grenzen. Die erzwungene eindimensionale Identität erwies sich als explosiv. Aber es gab zur selben Zeit — und gibt sie noch — Alternativen zu der hoffnungslosen Eindimensionalität.

Die Geschichte Mittelosteuropas zeigt, daß es immer eine Region mehrdimensionaler Identitäten gewesen ist. Nur — und dies ist seine Tragödie — die lebensfähigen und dauerhaften Formen, diese Mehrdimensionalität festzuhalten, sind noch nicht gefunden worden.

In der Zwischenkriegszeit lebten zum Beispiel in der Bukowina Polen, Ukrainer, Juden und Deutsche so vermischt miteinander, daß eine majoritäre Nationalität erkennbar war. Die politischen Grenzen durchschnitten das Land mehrmals. Eine volkstümliche Anekdote erzählt von einem alten Mann, der in seinem Leben vier Pässe hatte, obwohl er Czernowitz nie verlassen hatte. Was für unsere Frage daran interessant erscheint, ist die Tatsache, daß er nicht notwendigerweise zu einer Minderheit in dieser Stadt zu rechnen war. Er sprach ganz alltäglich mehrere Sprachen wie die meisten seiner MitbürgerInnen ebenfalls.

Dieser vormoderne, multidimensionale Kultur wurde zerstört durch den Einbruch der rassistischen Nazi- Ideologie und später durch den stalinistischen Polizeistaat. Die neue Frage, die wir heute stellen müssen, ist die, wie die florierenden Post- 1989-Ideologien von Homogenisierung und die sie begleitenden Phänomene von Rassismus und Xenophobie zu erklären seien.

Nach Jahren der Unterdrückung und Erniedrigung sind der Ausbruch von Haß und aggressiven Formen ethnischer Selbstidentifikation, Selbstvergewisserung und der Ausbruch von nationalem Stolz verständlich und man hätte sogar darauf gefaßt sein können. Dennoch war das überwältigende Eintauchen in die „nationale Vergangenheit“ nicht die einzige Richtung, in die die politischen Energien hätten gelenkt werden können.

Wunderbares 1989

Das wunderbare Jahr 1989 und die wenigen Jahre der Hoffnung davor waren voller Pläne, Gespräche und Erwartungen über den „Anschluß an Europa“ und die Teilnahme an seinen Integrationsprozessen. Bewegungen oppositioneller Intellektueller kooperierten miteinander über die Grenzen hinweg, mit dem Blick auf künftigen gegenseitigen Austausch unter freien und demokratischen Verhältnissen. Die Wiedergeburt der verletzten nationalen Identitäten, die die Gesellschaften zusammenzuhalten halfen durch vorwiegend kulturelle Codes, schien natürlich und sogar wünschenswert in diesen Zeiten. Niemand fragte nach der gegenseitigen Vermittelbarkeit verschiedener Identitäten. Nationale/ ethnische Zugehörigkeit (nationale Identität), mitteleuropäische Identität und Europäertum (Europäische Identität) schienen sich gegenseitig zu bestärken. Ihre Kombination trug die Botschaft einer raschen kulturellen, politischen und auch ökonomischen Erholung in sich.

Nach 1989 fanden sich die beginnenden Demokratien im Stich gelassen. Das von der Sowjetunion hinterlassene Ideologievakuum und das Sicherheitsvakuum wurde (mit wenigen Ausnahmen) gefüllt von autoritären, populistischen und nationalistischen Ideologien und Bewegungen. Dies muß als ein natürlicher Prozeß erscheinen, wenn man ihn von dem Fehlen von Perspektiven für den schnellen Anschluß an Europa aus betrachtet. Der neue Kollektivismus in Ostmitteleuropa ist eine Antwort auf den sie ausschließenden papierenen Vorhang des Westens. Die Länder der Region glaubten, Europa jeweils allein erreichen zu können, indem sie den anderen vom fahrenden Zug hinunterdrängten. Das Ergebnis war Abneigung, Mißtrauen und Desintegration. Die bequemen Visionen einer gesamteuropäischen Integration sind nun ausgeträumt. Die nationale Identität hat über die mitteleuropäische und die europäischen Identitäten gesiegt, zumindest für den gegenwärtigen Zeitpunkt.

In Ermangelung von Anreizen seitens des Westens sowie lokaler und heimischer Ressourcen, die eine lebensfähige Vision von Entwicklung ohne verantwortungslose Versprechungen beinhalten würden, gibt es so gut wie nichts, was man dem Entstehen extremistischer politischer Parteien und Bewegungen entgegensetzen könnte. Der von westlicher Gleichgültigkeit und Abwegigkeit hervorgerufene soziopsychologische Schaden verstärkt in der gesamten Region Gefühle von Verzweiflung und Verlassenheit.

Man kann all die inneren Unruhen der Region nicht allein durch äußere Enttäuschungen erklären. Aber sie unterstützen sicherlich jene politischen Kräfte, die nichts anderes anbieten können als Rache, die Suche nach Sündenböcken und die Glorifizierung der vorkommunistischen Vergangenheit. Was wir fürchteten, scheint stattgefunden zu haben: Wenn das innere Chaos und die äußere Bedrohung des Nationalstaates ansteigen, wird der Ruf nach dem starken Mann laut. Die finanziellen Mittel für Forschung, soziale Maßnahmen und Erziehung werden gekürzt, und gleichzeitig für die staatliche Miliz und die Armee erhöht. Genau das ist es, was das postkommunistische Zeitalter einläutet.

Prozeß der Zivilisation

Es reicht nicht, einfach Nationalismus und Xenophobie zu verurteilen, man muß demokratische Alternativen finden. Mit dem Jahre 1989 sind unvorhergesehene Möglichkeiten aufgekommen, um die zivile Gesellschaft zu konstruieren und zu institutionalisieren. Zivile Gesellschaft in Zentraleuropa kann jedoch nicht eine nationale Gesellschaft im Sinne von Homogenisierung und Ausschluß sein. Vorstellungen über nachträgliche Grenzziehungen, ebenso wie Mythen von ethnischen Ursprüngen, sind der Kooperation, Integration und demokratischen Entwicklung hinderlich.

Das soll nicht heißen, daß kulturelle Traditionen und Eigentümlichkeiten zu vernachlässigen sind oder nicht als Basis von Identität bewahrt werden brauchen. Es soll nur bedeuten, daß diejenigen politischen Kräfte, die ihre Philosophie und konkrete Strategie ausschließlich auf Prinzipien von ethnischer und nationaler Homogenität bauen, keine Chance auf langfristigen Erfolg haben. Die Verweigerung des neuen Kollektivismus, die tatsächlich tief verwurzelt ist, die Verweigerung also der auf Homogenisierung und Ausschluß fußenden Ideologien führt nicht zu einem Verlust von Identität, eher umgekehrt: es führt zur Bereicherung der Identitäten. In einer gesunden und sich entwickelnden Demokratie können mehrere Identitäten sein, nicht nur innerhalb einer Nation, sondern auch innerhalb des einzelnen Bürgers selbst. Die soziale Verwirklichung dieses Gedankens würde zum Prozeß der Zivilisation in Osteuropa führen und zur Bejahung der vorteilhaften und produktiven Natur von multiethnischen Gesellschaften sowie vielfältigen Identifikationsmöglichkeiten — also am Nerv der Realität der modernen Welt sein. Ferenc Miszlivetz

Publizist und Politologe in Budapest