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Ein Gebrauchsgegenstand

„Urga“, ein Film von Nikita Michalkow  ■ Von Christiane Peitz

Ein Mongole schlachtet ein Schaf. Behutsam legt er es zur Seite, streicht das Fell glatt, schneidet das Bauchfell auf. Nur ein kleiner Schnitt, es blutet nicht. Dann greift der Mann in den Tierleib hinein, sucht, vielleicht das Herz. Das Schaf lebt noch, es sieht verwundert aus und zappelt ein bißchen. Der Schäfer hält ihm die Schnauze zu. Das Tier stößt ein paar gedämpfte Laute aus, dann entspannen sich seine Muskeln. „Ich hole eine Schüssel, um das Blut aufzufangen,“ sagt die Frau des Schäfers. Die Kinder stehen dabei und schauen zu, schweigend und neugierig. Dann helfen sie beim Fellabziehen. Der Vater zeigt ihnen die Handgriffe. Der Junge ist ganz ernst bei der Sache.

Das Töten sieht man selten im Kino. Wirkliches Töten, nicht gestelltes. Oft wird im Nachspann eines Films, in dem Tiere getötet werden, versichert, daß keiner Kreatur ein Haar gekrümmt wurde und daß der Tierschutzverband die Dreharbeiten überwachte. Die Schauspieler von Urga sind Bewohner der mongolischen Steppe, das Schlachten eines Schafs ist eine alltägliche Verrichtung für sie. „Das Schaf, das hier getötet wird, ist auch das, das in der nächsten Szene tatsächlich gegessen wird. Wenn ich dieses Schaf nehme, es im Off töte, und wenn die Schauspieler es dann essen, sagt kein Mensch etwas. Das ist der Beweis dafür, daß man nicht wissen will, was geschieht, aber trotzdem essen will,“ erklärt Regisseur Nikita Michalkow.

In Urga kann man sehen, was geschieht. Es ist etwas anderes, als man erwartet. Das Töten des Schafs ist keine Sensation. Nicht aufregend, nicht widerwärtig, kein Ritual. Nichts, was sich mit einem Attribut versehen ließe. Es bedeutet nichts; erst hinterher begreift man, daß das, was man gerade gesehen hat, ein Tötungsakt war.

Die Szene hat einen Zuschauer. Sergej, ein russischer Lastwagenfahrer, ist bei der Fahrt durch die Steppe am Lenkrad eingeschlafen und hat seinen Wagen an die Böschung des Flusses gesetzt. Die Familie nimmt ihn freundlich auf; ihm, dem Fremden zu Ehren, wird das Schaf geschlachtet. Auch er schaut beim Schlachten zu, aber er sieht nur, was er kennt: das Eklige. Angewidert wendet er sich ab; für ihn geschieht das Töten im Off. Aber später ißt er begeistert das gebratene Lammfleisch. Sergej und der Schäfer werden Freunde.

Nikita Michalkow hat seit '87 keinen Film mehr gemacht. Er sagt, es liegt daran, daß er in der Sowjetunion keinen Film drehen wollte. Es gebe dort nur noch Filme, die anprangern: die Droge, die Prostitution, Stalin. „Ich möchte mich nicht negativ definieren, indem ich Filme über das mache, was mir nicht gefällt.“ Auch Urga ist nicht in der Sowjetunion gedreht, sondern in der inneren Mongolei, in China. Russland war 270 Jahre lang unter mongolischer Herrschaft, Urga ist also eine Reise zu den ehemaligen Besatzern, dahin, wo einmal die Macht war und von wo sie verschwunden ist. Eine Art Jenseits. Definitionen erübrigen sich da; und Dschingis Khan gibt es nur noch im Traum.

Dschingis Khan tritt auf in Urga, aber es ist nicht eigentlich eine Traumsequenz. Mag sein, daß der Schäfer von ihm träumt, aber wir sehen ihn in klaren, normalen Bildern. Michalkow legt uns nicht nahe, daß es ein Traum ist. Wir denken es nur.

Oder die Steppe. Wenn Urga einen Hauptdarsteller hat, dann diese Landschaft. Grüne Hügel, sanft gewellt, in alle Richtungen, so weit man sehen kann. Vom Blickfeld nehmen sie nur den unteren Rand ein, darüber wölbt sich der Himmel, und weil der Horizont so weit ist, kann man das Sich-Wölben deutlich sehen. Eine Wolkenlandschaft, manchmal graue Gebirge, manchmal ein Regenbogen. Die Luft scheint schwerer als die Erde, so flach wirken die Grashügel gegen den Himmel. Zuerst sieht man nur die Leere. Nichts, wo der Blick verweilen könnte. Wie der Lastwagenfahrer: zum Einschlafen. Aber dann nimmt man die Unterschiede wahr, zwischen der glatten Wolkendecke und den Haufenwolken, zwischen sattem Grün und vertrocknetem Gelb. Die Schatten, die die Wolken auf die Hügel werfen. Die Regengrenze, Grashalme, ein Insekt. Naturtheater.

Vielleicht liegt es daran, daß die Steppe in Urga kein Drehort ist im klassischen Sinn — sie liefert nicht das Ambiente für die Story. Michalkow hat keine Story. Mit fünf Seiten Manuskript fuhr er in die Mongolei, er hatte nichts Bestimmtes vor, kein Drehbuch, nur ein paar Eckdaten. Ein mongolischer Schafzüchter wird von seiner Frau in die Stadt geschickt, um Kondome zu kaufen. Sie haben drei Kinder und ein viertes dürfen sie nach dem chinesischen Gesetz nicht bekommen. Die Urga ist eine lange hölzerne Stange mit einer Schlaufe am vorderen Ende, zum Einfangen der Schafe. Wenn der Schäfer und seine Frau sich lieben wollen, laufen sie über den Hügel und werfen sich ins Gras. Die Urga stecken sie daneben, mit einem roten Tuch an der Spitze, damit man schon von weitem sehen kann, daß sie nicht gestört werden wollen. Eine praktische Einrichtung. Nichts von Bedeutung, nur ein Gebrauchsgegenstand.

Das Schaf, die Steppe, die Urga. Wo der Blick nichts zum Verweilen findet, wird das Sehen zum Abenteuer. Erst der Verzicht auf das Sensationelle ermöglicht die Sensation. Urga präsentiert seine Bilder nicht, hält sie uns nicht vor wie ein fertiges Produkt. Von uns hängt es ab, ob wir nur die Ödnis wahrnehmen oder die Schattenspiele. Urga ist kein Abzug von der Wirklichkeit und auch keine nachgestellte Realität. Michalkow hat die Mongolei nicht einfach auf Zelluloid gebannt; er hat sich vielmehr von ihr in Bann ziehen lassen. Wenn Kino die Kunst des Lügens ist, dann ist Urga der Gegenbeweis: daß die Kunst darin liegt, nicht nachzustellen und nicht festzuhalten. Nur dann, vielleicht, läßt sich zeigen, was geschieht.

Die Tochter des Schafzüchters kann Akkordeon spielen. Dem Gast zu Ehren zeigt sie, was sie gelernt hat. Die Familie sitzt in der Jurte, das kleine Mädchen lächelt, wiegt seine gedrungene Gestalt hin und her und spielt einen Paso Doble. Laut und mit sportlich-vitalem Rhythmus. Ein spanischer Tanz in der chinesischen Mongolei, drumherum, so weiß man, nichts als leere Landschaft. Plötzlich kann man die Stille hören, die über den Hügeln liegt.

Man braucht gar nichts zu erfinden. Schon der Begriff Schauspieler läßt sich auf Bayertu, der den Schäfer Gombo darstellt, nur schwer anwenden. Man hat nicht den Eindruck, daß er eine Rolle spielt, daß es eine Differenz gibt zwischen dem, der er ist und dem, den er darstellt. Er steht nicht für jemand anderen, er tut nicht so als ob. In diesem Identischsein, im Dokumentarischen von Urga steckt die visionäre Kraft des Films. Seine Nüchternheit hat etwas Mystisches. Keine Mystik wie bei Tarkowski: Sie stellt sich nicht zur Schau. Man kann sie auch ignorieren.

Urga ist kein Film, der Menschen oder die Natur für seine Zwecke benutzt. Und weil er keinen Nutzen zieht, gelingt es ihm, etwas zu erzählen von den ganz großen Dingen, die, wenn man sie benennt, so billig klingen: Mensch und Natur, Liebe, Vergänglichkeit, Tod. Michalkow benennt sie nicht, dazu fehlt ihm die Distanz. Er ist vielmehr so ernst bei der Sache wie der Junge, der beim Schlachten zuschaut und sich die Handgriffe erklären läßt.

Leider hält Michalkow seinen nüchternen Blick nicht durch. Nach einer Stunde Kino verläßt Gombo die Steppe und fährt mit Sergej in die Stadt. Er reitet durch die Straßen wie ein Westernheld, der sich in ein falsches Zeitalter verirrt hat. Er ißt kandierte Früchte. Er kauft einen Fernseher. Und er geht zum Lama, um ihn wegen der Kondome zu befragen. Ein Zivilisationsschock: Plötzlich geschieht ganz viel. Sergej hat Heimweh nach Rußland und erinnert sich in groben Schwarzweißbildern an sein Zuhause. Und Gombo fährt Karussell und träumt seinen Mongolen- Traum.

All das hat Michalkow nicht gesehen; er hat es sich ausgedacht. Bilder zu Begriffen: Entwurzelung und Heimatlosigkeit in der modernen Gesellschaft. Die Technik, die den Menschen zerstört und die Natur. Michalkow reiht Sentenz an Sentenz, entwirft Zukunftsprognosen, läßt eine Stimme aus dem Off sprechen und sucht nach symbolträchtigen Einstellungen. Man kommt gar nicht nach bei soviel Sinn. Am Ende ist der Regisseur, dem Schäfer nicht unähnlich, genau dahin geraten, von wo er wegwollte: Die zweite Hälfte von Urga prangert an, was Michalkow nicht gefällt.

Auf der Reise zurück in die Steppe sitzt Gombo vor seinem neuen Fernseher im Gras. Der leere Bildschirm reflektiert das Bild von der Steppe und seinen Bewohnern. Das Fremde, in ein kleines Viereck gesperrt, bunt, aber undeutlich: Folklore, will der Regisseur damit sagen und Kritik anmelden am westlichen Blick. Aber sein kritisches Bild ist selber folkloristisch.

Nikita Michalkow: Urga. Mit Bayertu, Badema, Wladimir Gostjukin, UdSSR/Frankreich 1991, 35mm, 120Min.

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