: Vom Putsch zur Abwicklung
■ Das Ende des Sowjetreiches begann mit der Putsch-Pleite im August und gipfelte in der Entscheidung von Brest, der Gründung der "slawischen Union". Nun mußte Gorbatschow sich mit Jelzin auf die Auflösung der...
Vom Putsch zur Abwicklung Das Ende des Sowjetreiches begann mit der Putsch-Pleite im August und gipfelte in der Entscheidung von Brest, der Gründung der „slawischen Union“. Nun mußte Gorbatschow sich mit Jelzin auf die Auflösung der UdSSR bis zum Jahresende einigen. Die brisanten Fragen bleiben offen: Wer hat den Oberbefehl über die Atomwaffen, und wo werden sie stationiert?
Drei Wochen vor dem 69. Gründungstag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken trat der klinische Tod des letzten großen Imperiums ein. Während alle Ärzte und Krankenschwestern vom Lager des Todgeweihten desertiert waren, stand allein Präsident Gorbatschow zu seinem hippokratischen Eid. Kategorisch sperrte er sich bis zuletzt gegen eine Sterbehilfe für den todkranken Patienten. Dabei hatten die Organe der russischen Regierung am 10. Dezember schon selbst die Schläuche gekappt. In der Erwartung massiven Protestes aus dem Kreml wechselten sie dessen Kommandanten aus und unterbrachen Gorbatschows direkte Telefonlinien. Anders scheint es in Rußland nicht zu gehen. Neben der Standardformel „Wir müssen uns jetzt entscheiden“, die in der Gorbatschowschen Terminologie soviel wie abwarten bedeutet, hatte der Präsident allerdings selbst in der Nachputschzeit immer wieder die Sentenz bemüht: „Man kann nicht im Scheintod leben.“ Auch dies ist typisch für Gorbatschow, den größten Reformator dieses Jahrhunderts. Gorbatschows Unentschlossenheit und sein Taktieren haben ihn selbst ins politische Abseits manövriert. Wenn in der Silvesternacht die sowjetische Fahne vom Kreml eingeholt und der künstliche Luftstrom abgestellt wird, der sie in Bewegung hielt und dem ganzen etwas Erhabenes verlieh, dann gibt es die Sowjetunion und auch das Großartigste dieses Systems, seine Symbolik, nicht mehr. Ungeachtet seiner Finten, Volten und Ungeschicklichkeiten, die seine Person in der letzten Zeit demontierten, hat er etwas geschafft, was keinem Herrscher vorher vergönnt war. Weder das Römische Reich, Byzanz, Österreich-Ungarn noch das Britische Empire verließen an ihrem Ende die Bühne der imperialistischen Politik mit so wenig Blutvergießen wie die Sowjetunion. Das bleibt Gorbatschows Verdienst. Hoffnungen, die mit dem Zerfall der Großreiche immer wieder einhergingen, werden auch diesmal wach, doch wiederum nicht einzulösen sein. Universalen Werten wie Frieden, Freiheit und ein Leben in Selbstbestimmung gehen nationale Interessen voraus, die unweigerlich mit der Wiedergeburt des nationalen Selbstverständnisses verbunden sind. Richtungskämpfe in den Regierungen der neuen Staaten trüben bereits jetzt die Aussichten auf eitel Sonnenschein. Auch Rußland macht da keine Ausnahme.
Bis zum 31. Januar will der russische Präsident Jelzin alle Relikte des alten Systems beseitigen oder die noch brauchbaren Strukturen in die Jurisdiktion der Russischen Föderation überführen. Das klingt träumerisch. Lediglich seine Forderung nach Gorbatschows Rücktritt bis spätestens 15. Januar wird in Erfüllung gehen. Die Abwicklung der Konkursmasse nimmt mehr Zeit in Anspruch. Ähnliche, gar schwerwiegendere Probleme tauchen mit Aserbaidschan auf, das auf der Gründung eines eigenen Heeres besteht, der neuen Gemeinschaft aber nicht einmal beitreten wird.
Die Auflösung von Unionsministerien, die sowieso schon seit Monaten oder länger im Winterschlaf dösen, ist da eine andere Sache. Sie läßt sich per Stempel und Unterschrift verfügen, ihre Mitarbeiter werden mit einem großzügigen Sozialplan ruhiggestellt. Ähnlich verhält es sich mit der Auflösung des Obersten Sowjets der UdSSR. Der schwarze Oberst Alksnis gründete mit Genossen ein Komitee zur Rettung dieser Institution. Juristisch will er Widerspruch einlegen. Für ihn steht heute schon fest, daß angesichts der zu erwartenden gesellschaftlichen Unzufriedenheit dieses Organ schon im Februar das einzige legitime der „Union“ sein wird. Zwischenzeitlich muß er mit diesem Komitee jedoch die Räumlichkeiten wechseln. Das KGB arbeitet ohnehin offiziell nicht mehr auf der ehemaligen Unionsebene. Die außenpolitischen Verpflichtungen, so zeigte es Rußlands Bemühen, die Nachfolge der UdSSR im UNO-Sicherheitsrat anzutreten, werden ansonsten an die RSFSR übergehen. Doch darüber wurde noch nicht en detail verhandelt. Unstimmigkeiten sind bei der Verteilung des Unionseigentums, der Betriebe und Immobilien zu erwarten. Was geschieht mit dem militärisch-industriellen Komplex? Auch dieses Thema wurde bis dato geflissentlich ausgeklammert. Zündstoff liegt darin allenthalben genug.
Als der ukrainische Präsident Krawtschuk und sein weißrussischer Amtskollege von der Unterzeichnung des „Dreierbundes“ zurückkehrten, wurden sie zu Hause wie Helden gefeiert. Wohl nicht, weil sie damit eine „slawische Union“ gerettet hatten, sondern weil sie relativ günstige Zwischenergebnisse in den Verhandlungen erzielt hatten. Das allerdings verheißt Jelzin in Rußland und unter seinen eigenen Parteigängern nichts Gutes.
Der Vertrag besiegelte das Ende des Zentrums und wurde daher gefeiert, keiner achtete auf die neu entstandenen Probleme. Bei den Einzelposten, die es jetzt zu verhandeln gilt, wird Jelzin massiven Widerstand aus den patriotischen Kreisen seiner Anhänger zu gewahren haben. Teile der demokratischen Partei Rußlands, der Deputiertengruppe „Rossija“, der Russisch Christlichen Demokratischen Bewegung und noch einige andere werden einen „Ausverkauf“ nicht ohne weiteres hinnehmen. Gorbatschow könnte sich auf dieses Spektakel schon freuen. Klaus-Helge Donath, Moskau
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