: Unterm Strich
Sie sei dabei, alle Gedanken, die sie früher für selbstverständlich gehalten habe, neu zu durchdenken, bekannte Christa Wolf bei einem Gespräch in der Literaturwerkstatt Berlin. Bei ihr habe sich ein Unglaube daran entwickelt, daß größere Teile der Menschheit aus der Geschichte lernen und daß sich deshalb bestimmte Dinge nicht wiederholen könnten. So etwas Optimistisches wie in ihrem 1976 erschienenen Erinnerungsroman Kindheitsmuster könne sie heute nicht mehr schreiben. Die ostdeutsche Schriftstellerin antwortete damit auf Fragen von Gesprächsteilnehmern nach den Ursachen für die zunehmende aggressive Ausländerfeindlichkeit, nach neonazistischen Angriffen auf Fremde und die angeblich zunehmende Akzeptanz dafür in der Bevölkerung. Dieses neue Infragestellen könne, so die Autorin, zu Pessimismus und Passivität führen, aber es könne auch eine Herausforderung sein. Für sie werde es vielleicht das künftige Schreiben sein, wenn es dazu komme.
Christa Wolf hatte zuvor eine neue Prosaarbeit Nagelprobe — eine assoziationsreiche Betrachtung zum Thema „Nägel“. Zu der Vermutung, in dem Text komme ihr tiefes Verletztsein über verleumderische Angriffe auf sie zum Ausdruck, wollte sich die Autorin nicht äußern.
Zuhörer konfrontierten Christa Wolf mit der Frage, warum das „kritische Potential“ des 1989er Aufbruchs in der damaligen DDR so schnell verlorengegangen sei. Sie entgegnete darauf, die meisten Menschen hätten ihr damaliges Engagement als vergeblich empfunden. Aber ihrer Meinung nach sei es nicht verlorengegangen, zumindest in den Köpfen sei es noch da. Die jungen Leute vor allem würden schnell wieder herausfinden, was sie an der jetzigen Gesellschaft störe, und das auch artikulieren.
Vor sieben Jahren prophezeite der Schriftsteller Stefan Heym in Brüssel im Gespräch mit Günter Grass die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Wie ein vereintes Deutschland danach aussehen würde, darüber gingen ihre Ansichten damals noch auseinander. Heute stimmen beide Autoren überein: Es sei gut, daß der SED-Staat verschwunden ist. Was an seine Stelle getreten ist, sei aber „höchst fragwürdig“.
Im Jugendstilsaal des Brüsseler Palastes der Schönen Künste sollten der ostdeutsche und der westdeutsche Schriftsteller am Montag abend Perspektiven der Einheit zeigen und ihre Auswirkungen für Europa betrachten. Weder Grass noch Heym mochten den Blick aber nach vorn richten. Das vom Goethe-Institut organisierte Podiumsgespräch nahm die Wendung einer bitteren Bilanz. Heym gab den Ton vor: Er sprach von einer „mißglückten Einheit ohne Einigung“. Ein belgischer Zuhörer meinte zum Schluß: „Sie vermitteln den Eindruck, es gibt nur schlimme Westdeutsche.“
Mit Kritik am „Regime Kohl“ wurde denn auch nicht gespart. Wertvolle Chancen seien bei der überstürzten Vereinigung ungenutzt geblieben. Heym sagte: „Ich bin noch immer Regimekritiker, nur das Regime, das ich kritisiere, hat gewechselt.“ Auch Grass fuhr
schweres Geschütz auf: Die neue Bundesrepublik beruhe auf einem Verfassungsbruch. Artikel 146 — das deutsche Volk gibt sich nach der Einheit eine neue Verfassung — sei einfach stillschweigend unter den Teppich gefegt worden.
Heym meinte, aus der deutschen Frage sei „die soziale Frage“ geworden. Die Ex-DDR werde nun von zwei Organen beherrscht: Von der Treuhand als Nachfolgerin des Politbüros und von der Gauck-Behörde als Verwalterin der Stasi-Akten. „Das kann man nicht als Demokratie bezeichnen!“
Einstimmig verurteilten beide Autoren den Umgang mit dem Nachlaß der Staatssicherheit. Vergessen sei die rechtsstaatliche Annahme der Unschuld der Angeklagten zugunsten von „Rufmord ohne Belege“. „Die Beschuldigten müssen das Recht haben, ihre Akten zu sehen. Das ist in der Bundesrepublik nicht der Fall“, erklärte Grass. Die Stasi aber feiere neue Triumphe: „Das Material ist eine Zeitbombe — ein Gift, das langfristig wirkt.“
Günter Grass widersprach schießlich dem Eindruck, die neue Welle von Ausländerhaß sei ein ostdeutsches Phänomen. Was sich da gewaltsam äußere, sei „gesamtdeutscher Rechtsradikalismus“. Statt dem „dumpfen Antigefühl“ aber zu widersprechen, wolle die CDU — in der Gestalt von Generalsekretär Volker Rühe, einem „Skinhead mit Schlips und Kragen“ — die „populistische Volksstimmung zugunsten der eigenen Mehrheit ausnutzen“. Warnend verwies der Autor auf die Rassegesetze des „Dritten Reiches“. Man dürfe nicht der „deutschen Neigung“ folgen, neue Unordnung in geordnete Bahnen und Gesetze lenken zu wollen. „So fängt man an, am Asylgesetz rumzubasteln.“
Der französische Schriftsteller, Dichter und Kunstkritiker André Pieyre de Mandiargues ist am vergangenen Freitag im Alter von 82 Jahren in Paris gestorben, wie seine Familie mitteilte. Seine Werke waren unter anderem mit dem Prix Goncourt und dem Poesiepreis der Académie fran¿aise geehrt worden. 1985 erhielt er für sein gesamtes literarisches Schaffen, das sich durch einen barocken und phantastischen Stil auszeichnete, den Grand Prix National des Lettres.
Der am 14. März 1909 in Paris geborene Pieyre de Mandiargues stand unter dem Einfluß der deutschen Romantiker und der französischen Surrealisten und war insbesondere eng mit dem Schriftsteller André Breton befreundet. Für den Roman La Marge erhielt er 1967 den Prix Goncourt. Der 1987 erschienene letzte Roman Tout disparaitra behandelt das Problem des Alterns und des Todes.
Nachdem Pieyre de Mandiargues auch mehrere Theaterstücke verfaßt hatte, widmete er sich in den siebziger Jahren hauptsächlich der Kunstkritik. Seine Essays über Max Ernst, Hans Bellmer, Chagall, Leonor Fini und Arcimboldo sind unter dem Titel Belvedere zusammengefaßt. In deutscher Übersetzung liegen unter anderem der Roman Das Motorrad (1963) und die erotischen Erzählungen Die Trauer der Rosen (1983) vor.
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