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AU WEIHNACHTEN! Von Philippe André

Wann gehst du denn Geschenke kaufen?“ heißt es in der Regel bereits viele Wochen vor dem heiligen Fest, wenn — meist schon im Oktober — die Kaufhäuser ihre Regale in bester Marketing-Manier mit Weihnachtsmännern, Lebkuchen und Spekulatius vollzustopfen beginnen. Wer dann den Fehler begeht, in nostalgisch besonnener Antikonsum- haltung noch etwas zuwarten zu wollen, bis zwei, drei Wochen vor jenem großen Ereignis zum Beispiel, muß heutzutage mit irreversiblen körperlichen und seelischen Schäden rechnen. Vor allem aber: Er kriegt nicht mehr, was er will, sondern muß nehmen, was er noch kriegt. Jedenfalls in Deutschlands Hauptstadt, die nun 30 Prozent Bescherungsjunkies mehr zu verkraften hat. In den großen Supermärkten spielen sich in diesen Tagen echte Tragikomödien ab. Hinein kommt man ohnehin nur im berühmten Hochzeitsschritt. Umfallen kann keiner. Auch der Ohnmächtige wird so lange mitgeschleift, bis sich zuweilen eine Art Loch auftut, in das der Unglückliche dann getrost sinken kann. Merken würd's keiner. Man sieht Kinder, die durch die Macht der faktisch verschmolzenen Leiber von ihren Eltern getrennt werden. Manche weinen, andere brüllen herzzerreißend. Mütter kämpfen gegen den Strom, versuchen, sich zu ihren Sprößlingen durchzuboxen. Sie erinnern an jenen Selbstmörder aus einem düsteren Zukunftsroman, der es sich plötzlich doch anders überlegt, aber durch Abertausende unvermittelt auftauchender weiterer Selbstmörder ins Meer zurückgedrängt wird und nicht mehr aus dem Wasser kommt. Überhaupt gewinnt man zunehmend den Eindruck, Weihnachten sei hier nur deshalb zum Fest der Liebe geworden, weil die Menschen sich vom eingebildeten Zwang, auch noch die dämlichsten Wünsche der Allerliebsten zu befriedigen, so erschöpft fühlen, daß am Heiligabend schlicht nichts mehr läuft. Außer der kleinen, völlig unverständlichen Depression vielleicht, die einen nach dem Genuß der gefüllten Weihnachtsgans gelegentlich streifen kann. Oder nach dem Auspacken der Geschenke, die uns nach den Feiertagen wieder massenhaft zurücktreiben in die Kaufhäuser, weil der Scheiß nicht paßt, die falsche Farbe hat oder gar schon kaputt ist. Das macht echt fertig. In diesem Erschöpfungszustand, vermuten Fachleute, liegt auch der Keim jener alljährlich zu Silvester akut werdenden „guten Vorsätze“, die meist den Monat Januar nicht überleben. Es ist dieses irgendwie übriggebliebene schlechte Gefühl, in den letzten hektischen Tagen vor und nach dem hohen Fest die Figur eines kompletten Vollidioten abgegeben zu haben. Die ganze politische Orientierung ist im Eimer. Selbstbestimmtes Leben? Ein Rolltreppenwitz! Ökologisches Bewußtsein? Kurzfristig abgedockt! Antikapitalistische Grundhaltung? An sich schon! Aber was will man denn machen? Und dann ist es ja auch gleich vorbei.

In dieser verzweifelten Situation hilft nur ein Gelübde. Und das halten wir eisern ein. Solange wir noch wissen warum.

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