■ Erneut bedenkliches: Der nackte Volkskörper & seine Bekleidung. Letzte Weihnachtseinkaufsempfehlung, dem Tweed gewidmet
Es gibt Völker ohne Kleidung, aber keines ohne Schmuck. Der unbekleidete Volkskörper also existiert nicht, ist schlechthin undenkbar; das nackte Volk ist keines. In unseren deutschen Breitengraden ist die ausschlaggebende Frage, ob Schmuck oder Kleidung, schon lange, aber vielleicht nicht endgültig zugunsten des zweiten entschieden worden. Erst nach und nach erobert wieder die Wäschekultur, die ja der Entkleidung dient, das Bewußtsein der modisch aufgeschlossenen MitbürgerInnen. Man will nicht bis zur Endstufe der Erderwärmung warten, und die Ausbreitung der Zentralheizung eröffnet schließlich eine individuelle Abkürzung auf dem allgemeinen Weg ins ökologische Fegefeuer und damit in die geschmückte Nacktheit. Die Wäscheindustrie geht auf dieser Strecke mutig und ideenreich voran, indem sie uns den idealen deutschen Männerkörper, Michelangelos David nicht unähnlich, in diskretem Ambiente und Tiefdruck vorführt und mit dem Motto, man könne nie wissen, wie der Tag endet, auf repräsentative Unterbekleidung pocht.
Nun hat der Mann, dessen europäisch verordnete Außenverkleidung direkt der Uniform entspringt, allen Grund, sich für äußerste Unscheinbarkeit durch ein weihnachtliches Unterleben zu entschädigen. Eine Rodenstockbrille gleicht sicher manch optischen Mangel aus, aber zum zivilisierten Einzelwesen macht sie nicht. Die vorzugsweise männliche Suche nach der Identität gleich einer ganzen Nation mag im männlichen Modemangel ihren tiefsten Ursprung haben, denn der Volksgesamtkörper in all seiner Schlichtheit ist männlich, die Leibesschönheit der Damen von jeher an Vereinzelung gebunden.
Die Damenmode wurde als überflüssig, unpraktisch und verschwenderisch seit jeher von Männern wie Frauen gegeißelt, ihr kompensatorischer Wert der Individuierung mit dem Mangel an praktischen Chancen der Frau in kritisch-emanzipatorische Verbindung gebracht. In der Weigerung, den eigenen Körper allein zum Träger seiner Funktionen und inneren Organe zu degradieren und sich dem westlichen Zwang zur Zivilisierung durch dunkelblaue Abstraktion im Zweireiher anheimzugeben, liegt jedoch ein guter Trotz.
Wer mit geringem Aufwand in jeder beliebigen Gruppe von Zweibeinern ununterscheidbar Persönlichkeit ist, strebt vermutlich weniger nach dem Körper im Ganzen als dem einzelnen, mit dem er sich verbinden kann; der Stresemann hingegen wirkt am schönsten in Vereinsanordnung. Mit der weiblichen Mode schlechthin wird der Trieb zur Erhaltung des Menschengeschlechts phantasievoll sublimiert, dabei aber nicht vernichtet; der Anzug hingegen signalisiert nach wie vor, daß erst mit der Nacktheit Erotik beginnt, was offensichtlich gelogen ist. Bleibt die Frau also Frau auch im Kostüm, wird das Tier erst in Cool Wool zum Aufsichtsrat und der Mann erst unverwechselbar in seinem Jockey-Slip. Alle Versuche der Modeindustrie, ihm mehr Persönlichkeit zu geben, dürfen getrost als gescheitert betrachtet werden: Er will, je mehr er jemand ist, rein äußerlich ein Niemand sein. Am ehesten noch hat sich die Individualisierung an einem Kleidungsstück durchgesetzt, dessen gehäuftes Auftreten seit einigen Jahren das Straßenbild verbeult; dem Jogginganzug.
Ein direkter Zusammenhang zwischen der Mode und der Politik läßt sich nur selten ausmachen, weshalb die Kommentatoren der Haute Couture verzweifelt die Niederungen des beschreibenden Vokabulars beschreiten müssen und auf dem Gang durch die Bedeutungsebene anmutig verzweifeln. Das europäische Gedächtnis bekleidete seine Lücken bereits vor Jahren mit dem Kolonialstil, und schlickschwarz als Modefarbe war schon vor dem Golfkrieg fraktionsübergreifende Verordnung. In diesem Winter allerdings liegt die Vermutung nahe, daß die Familienpolitik der Konservativen, die ja insgesamt auf die Erhaltung des Volkskörpers und mit Stoiber auf seine reinrassige Erweiterung setzt, doch einen Weg der populärsten Vermittlung gefunden hat: niemals wurden Schwangere modisch so gut bedient wie heute; die derzeit unumgängliche Kombination von sogenannten Leggings und Pullovern führt als optische Regression in Form von Strampelhose und Kängeruhleibchen direkt zurück an den Beginn des Lebens selbst, sogar für Pampers an jeder beliebigen Stelle läßt der Überstrick Raum. Der weiblichen Regression ist die männliche vorangelaufen; der Jogginganzug bildet hier das bequeme Pendant, als wolle die Ontogenese die Phylogenese auf dem Laufsteg zunichtemachen.
Selbst die Schuhkultur geht rückwärts, denn vom atmungsaktiven Turnschuh mit Plastiksohle und Markenzeichen ist es nur ein Halbschritt zurück zum absatzlosen Schnabelschuh, der, rechts und links ununterscheidbar, das Anlegen zum Kinderspiel macht. Hält der Engländer den Verfall beispielsweise in der Farbe noch auf durch die bekannte Regel „Never wear brown after six“, hat auch hierin bei uns kleinkindliche Beliebigkeit gesiegt; die Farben rosa, lila und hellblau sind weder bei den strampelfesten Stoffen noch bei der zugehörigen Fußbekleidung die Seltenheit. Was ist davon zu halten, daß der Mann, so er sich freizeitlich bekleidet, gleich Mutterschaftsurlaub zu beanspruchen scheint?
Es ist, nach wie vor, die Angst vor der Vereinzelung, die ihn leitet und führt. Der Jogginganzug ist die puerile Freizeitversion des Zweireihers und ebenso asexuell, paßt am besten in Hobbykeller, Turnhallen und auf den Campingplatz, wird aber vorzugsweise in der urbanen Öffentlichkeit getragen und markiert dort ein sportliches Verhältnis zum Selbst, das den Bürger vergessen und den Bandscheibenschaden zum Modethema macht. Ein ganzer Volkskörper in Trikotware ist nicht undenkbar, denn sie paßt sich allen Bäuchen an; ein Volkskörper in Tweed ist schlicht eine Unmöglichkeit. Melangefarbig, mit Köperbindung, zumeist mit Noppen und Stichelhaaren, entweder klarfädig oder mit leicht verwischter Optik in kleinrapportigen Dessins: ist so das Allgemeine vorstellbar? es
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